Fast vier Jahre ist es jetzt schon her, dass ich mein Projekt „90 Nächte, 90 Betten“ absolviert habe. Eine unglaubliche Zeit, die ich wohl nie vergessen werde. Wie so oft laufe ich durch Berlin und denke mir: „Ach, da hast du mal Brötchen geholt für einen Gastgeber und hier habe ich übernachtet und dort im Café gesessen und an meinem Buch geschrieben. Ich bekomme auch immer noch Interviewanfragen zum Thema Couchsurfing. Fast jedes Mal bekommt man die Frage: War das nicht gefährlich? Wie hast du dich organisiert? Waren da nicht schräge Vögel dabei? Und welche Geschichte wirst du wohl nie vergessen? Obwohl es schon vier Jahre her ist, werde ich nie den Besuch bei der „fleißigen Biene“ vergessen.
Es ist ein weiter, sehr beschwerlicher Weg. Ich komme mitten in den Feierabendverkehr und das Navigationssystem lässt mich im Stich. Es ist nicht sonderlich überraschend, dass alles schiefläuft, wenn ich einmal das Auto nehme und nicht die Bahn.
Ich fahre über die Landstraße durch Wälder und an den Seen vorbei. Am Straßenrand stehen Werbeplakate für das „Wiesenschlachtfest“ und Rehe springen munter auf dem Feld umher. Ich habe nie im Leben gedacht, dass ich einmal so weit aus Berlin-Mitte rauskomme. Aber das Schicksal bringt mich 35 Kilometer tief in den Osten, nach Erkner. Auch wenn ich während der Autofahrt teuflisch fluche, weil alles so lange dauert, ist es jede Minute wert, die ich zu der fleißigen Biene fahre. Sie ist mein Radiojoker. Ich war letzte Woche zu Besuch beim Berliner Rundfunk und als Überraschung haben sie mir die 57-jährige Ostberlinerin mit Pseudonym „Biene gefallen“ vermittelt. Sie hat mich mit ihren Geschichten geködert. Ihren Geschichten über das schöne Haus, in dem sie wohnt, dem Wald, den man vom Fenster aus sieht, und die nahe gelegene Spree, in der man im Sommer baden kann. Nach 26 Tagen bin ich richtig naturgeil geworden und finde es unbeschreiblich schön, viele Bäume nebeneinander zu sehen und grüne Wiesen, die größer sind als 10 Quadratmeter. Eine fremde ist die fleißige Biene nicht mehr. Wir haben vor meinem Besuch schon zweimal ausführlich telefoniert. Das erste Mal rief sie mich an, um mir zu sagen, wie sehr sie sich auf meinen Besuch freut. Sie erklärte mir noch einmal, wie es bei ihr aussieht, wie grün der Wald ist und wie blau der See schimmert. Wir kamen auf ihren Reha-Aufenthalt und dass sie dadurch so schön abgenommen hat. Plötzlich war eine halbe Stunde vorbei. Das zweite Mal rief sie mich früh um 8 Uhr an, um nachzufragen, was ich gerne esse. Ihre Aufregung rührte mich. Sie ist so lieb und gut gelaunt und kümmert sich mütterlich um mich, den ganzen Abend. So ein fröhlicher Mensch ist sie nicht immer gewesen und musste hart an sich arbeiten, um da hinzukommen, wo sie jetzt ist. 2002 ist sie an Krebs erkrankt und hat erst nach diesem Schicksalsschlag erkannt, was sie jahrelang belastet hat und ihr nicht guttat. Sie hat ihr Leben noch einmal neu angefangen. Sie hat sich von ihrem Mann getrennt und blüht dadurch richtig auf, weil sie endlich alles umsetzt, was ihr Spaß macht. Auch wenn es nur die einfachsten Dinge sind, wie Walken, Wanderungen organisieren, Puzzeln zum Entspannen und eine Selbsthilfegruppe gegen Migräne gründen. Sie lernt, sich im Spiegel anzuschauen und sich zu erkennen. Wer sie ist. Was sie will.
„Ditt machen die wenigsten, ditt sach ich dir.“
Es ist schön zu sehen, wie jemand so lebensfroh, zufrieden und bescheiden sein kann, die schönen Dinge in Kleinigkeiten sieht und mit dem zufrieden ist, was er hat. Nur schade, dass man so eine Kurskorrektur oft erst nach einem schweren Schicksalsschlag schafft und erst weiß, worauf es ankommt, wenn es schon fast zu spät ist.
Wir sitzen mit alkoholfreiem Sekt und Katzenzungen bei Kerzenschein im Wohnzimmer und schauen uns Fotos an. Fotos von ihrer Familie. Ihrer Mutter, dem Sohn mit dem sie mich gerne verkuppeln will, und von ihrem letzten Urlaub. Aber auch Bilder von ihr im Krankenhaus. Wie sie in ihrem Bett liegt, mit Glatze und bleichem Gesicht.
Ich habe das Gefühl, nie wieder weg zu wollen. Einfach hier sitzen bleiben, in die Decke eingewickelt. Fernab von allem, nur den See, die Wiesen und den Wald in der Nähe. Vielleicht bin ich doch ein Landei und kein Stadtmensch.
Im Dezember ist die fleißige Biene über sechs Jahre mit ihrem neuen Freund zusammen, mit dem sie dann auf einer Kreuzfahrt in Ägypten sein wird. Die beiden haben sich auch über das Radio kennengelernt. Musik hören sie für ihr Leben gern und ihr größter Traum ist es, einmal Andrea Bocelli persönlich kennenzulernen. Wenn ich irgendwie könnte, würde ich ihr diesen Wunsch so gerne erfüllen. Als Dankeschön für das, was sie mir mit auf den Weg gibt. Es ist nichts Materielles. Es ist eher eine Gewissheit. Die Gewissheit, dass man immer einen anderen Weg gehen kann, dass nichts hoffnungslos oder zu spät ist. Und dass sie mich daran erinnert hat, dass Glück und Zufriedenheit in kleinen Dingen liegen. Man muss nur genau hinschauen.
Auszug aus dem Buch „90 Nächte, 90 Betten“.
Ja, dass ist die Geschichte von meiner 27.Nacht an die ich immer noch und sehr oft und gerne denke. Hier habe ich einen Menschen getroffen, der gekämpft hat, nicht aufgeben hat und belohnt worden ist. Ich liebe die Geschichten der anderen, sonst hätte ich auch nicht mein Format „Sprechstunde“ gestartet, bei dem ich wildfremde Menschen treffe und mir ihre Lebensgeschichte erzählen lasse. Das, was sie berührt, belastet oder sie einfach einmal erzählen wollen.
Ich bin bei der Techniker Krankenkasse versichert und bin neulich auf eine ganz ähnliche Aktion von ihnen gestoßen. Die TK erzählt auf ihrer Wegbegleiterseite Geschichten von Menschen, die angetrieben sind von ihrer Überzeugung. Von Menschen, die trotz Rück- oder sogar Schicksalsschlägen dran geblieben sind. Zum Beispiel Jana, die trotz Kreuzbandriss wieder erfolgreiche Hockeyspielerin ist, oder Robert, der erst Basketballprofi war und nun, nach seiner Krebsbehandlung Müsliriegel produziert. Die Geschichte von Robert mag ich besonders, weil man sieht, dass das Leben nicht immer einen roten Faden braucht und vielleicht doch irgendwie alles einen Sinn hat, auch wenn man es erst gar nicht versteht. Robert ist kein Basketballprofi mehr. Er macht jetzt Müsliriegel ohne Zusatzstoffe und ist glücklicher denn je.
Und die Geschichte von einem der bekanntesten Youtubern in Deutschland, LeFloids, die verrate ich euch nicht. Die könnt ihr euch HIER im Video anschauen. Echt interessant was Menschen für Päckchen mit sich rumtragen, von denen man jahrelang nichts weiß. Wenn ihr mal eine Geschichte loswerden wollt, ich höre euch bei meiner Sprechstunde gerne zu. Unter dem Hashtag #wireinander findet ihr noch viele andere Geschichten im Netz.