1:45 Uhr. Der Wecker klingelt. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich schon einmal um diese Uhrzeit aufgestanden bin. Das wäre ja auch Quatsch und unmenschlich ist es obendrein. Wenn man um 1:45 Uhr was vor hat, dann macht man eben die Nacht durch. Aber ich konnte nicht durchmachen, denn ich brauchte Kraft. Viel Kraft in den Waden und den Oberschenkeln.
„Du musst unbedingt den Sonnenaufgang auf dem Schwarzhorn erleben.“ Das hat mir vor drei Tagen einer meiner Leser geschrieben und ganz ehrlich, ich dachte: Was ist denn das für ein Spinner? Als ob ich mitten in den Nacht aufstehe und irgendeinen Berg im Dunklen hochlaufe, wo ich doch auch noch nachtblind bin. Nur um das zu sehen?
Tja, jetzt schnüre ich doch tatsächlich meine Schuhe zu und mache mich auf den Weg um einen Berg hochzulaufen und den Sonnenaufgang zu sehen. Die Nacht steckt mir noch tief in den Knochen. Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt geschlafen habe. Es war eher ein dösen mit viel zu vielen Gedanken. Die letzten drei Tage hier in der Schweiz konnte ich alles ausblenden. Alles was mich beschäftigt oder belastet. Mein Blog Relaunch, der sich schon 8 Monate hinzieht und mich langsam zur Verzweiflung bringt, dieses eine Projekt bei dem ich nicht weiß, ob es funktioniert, mein Showreel, dass ich schon die ganze Zeit machen wollte und nie dazu gekommen bin… Ich bekomme das Gefühl, nicht genug getan zu haben. Noch mehr an den Sachen arbeiten zu müssen, damit alles läuft und ich ans Ziel komme. Das und noch viel mehr, vor allem die Unsicherheit und Angst, ob ich mal wieder alles schaffen und erreichen werde, was ich mir vorgenommen habe, kam genau in diesem Moment in meinen Kopf, in dem obwohl ich eigentlich unbedingt einschlafen musste, um die bevorstehende Wanderung zu überstehen. Wir fahren mit dem Auto zum Ausgangspunkt. Ein Fuchs rennt über die Straße. Wir fahren vorbei am Gasthaus Tschuggen in dem noch der DJ hinter dem Mischpult steht und weiter durch die Nacht. Es ist viel zu früh, aber doch nicht spät. Der Vollmond scheint aus voller Kraft und zaubert ein mattes Licht über die Berge. Zauberberg. Ob Thomas Mann seinen berühmten Roman den Namen gegeben hat, nachdem er die Berge im Mondschein gesehen hat. Zauberberge, ja das sind sie, wenn sie mystisch und still im Mondschein leuchten.
Wir sind da. Rucksack auf und los. Die Männer mit Stirnlampen gehen voraus. Der Weg ist steinig. Loses Geröll rutsch unter meinen Füßen weg. Jeder Schritt muss sitzen, denn links geht es den Abgrund runter. Einmal muss ich mich am Gras festklammern, dass kein Gras war, sondern sich als ein Busch Disteln entlarvt. Es liegt ein Berg vor uns, den man nur aus eigener Kraft erklimmen kann. Keine Bahn oder Straße führt hier hoch. Ich laufe nach 20 Minuten nur noch in Trance, bis ich abrutsche und mir mein Knie aufschlage. „Nein, nein, nichts Schlimmes.“, beruhige ich die anderen. Weiter geht es. Ich habe Blut geleckt. Ich will jetzt da hoch. Ich will die Sonne aufgehen sehen, über den Wolken stehen und das erleben, was mir alle als unvergessliches Erlebnis angepriesen haben. Nach 30 Minuten bin ich im Flow. Ich denke an nichts mehr außer meine Schritte. Mein Kopf ist leer. Es fühlt sich wunderbar an. Auch zu sehen, dass wir dem Gipfel immer näher kommen. Doch dann, nach einer Kurve kommt der Wind. Starke Böhen peitschen gegen meinen verschwitzen Rücken. Ich kann die Augen kaum öffnen. Der Vollmond ist weg. Dafür ziehen dunkle Wolken auf, die noch dunkler sind als die Nacht.
„Wir müssen kurz warten“, sagt Achim. Er arbeitet für den Tourismusverband Davos Klosters und hat mir über Twitter angeboten mich auf die Wanderung mitzunehmen. Er hat mich heiß darauf gemacht, mit wunderschönen Fotos, dass ich dann irgendwann nicht mehr nein sagen konnte. Und dann habe ich euch, liebe Leser gefragt, ob ich es tun soll und ihr habt es mir mit über 800 Likes bestätigt. Jetzt stehen wir hier. Es fängt an zu tröpfeln. „Oh nein, hoffentlich bricht der Föhn nicht zusammen.“, sagt Achim und wirft einen zweifelnden Blick in die Ferne. Wir warten weitere 10 Minuten und aus der Dunkelheit stoßen weitere Menschen mit Stirnlampen auf den Köpfen zu uns. Halb Vier in der Schweiz – man trifft sich auf einem Berg. Wo sonst. Es liegt eine Unsicherheit in der Luft. Was tun? Warten? Weiter gehen? Umkehren? Beim Wort umkehren schicke ich 10 Stoßgebete zum Wettergott. Dass kann es doch nicht gewesen sein. 90 Minuten quäle ich mich den Berg hoch und dann soll ich umkehren? Ich möchte nicht dran denken. Ich ignoriere den kalten Schauer auf meinem Rücken und die Jeanshose, die immer schwerer wird durch die Regentropfen, die sich an ihr festsaugen. Es hört nicht auf zu regnen. Es wird immer schlimmer und da kommt er, der erste Blitz und uns allen ist klar: Wir müssen umkehren. Wir müssen den Weg zurück gehen, ohne das Ziel erreicht zu haben. All die Anstrengung war umsonst. Ich weiß nicht, ob mir eine Träne die Wange runter gelaufen ist oder ob es der Regen war, der weiterhin vom Himmel fiel.
Gestern Abend beim Einschlafen, da habe ich mich gefragt, woher schon wieder all die bösen Gedanken und Zweifel her kamen. Ich habe sie doch so schön weggedrückt, die letzten Tage. Einfach ignoriert und ausgeschalten. Jetzt, beim Weg zurück ins Tal weiß ich, warum sie kamen. Weil ich hier auf den Berg eine Antwort gefunden habe. Mit der Natur ist es wie mit dem Leben – es ist unberechenbar. Auch wenn man sich noch so viel Mühe gibt, in meinem Fall mitten in der Nacht aufsteht und mit voller Kraft einen Berg hochgeht, manchmal erreicht man trotzdem nicht das Ziel, weil irgendetwas passiert, was man einfach nicht beeinflussen kann. Und dann sollte man aufhören, die Schuld bei sich zu suchen oder sich immer wieder die Frage zu stellen: Hätte ich mehr geben müssen? Hätte ich einen anderen Weg gehen sollen? Hätte ich länger ausharren sollen?
Nein. Mit Projekten und Zielen im Leben ist es genau so. Man kann alles geben, aber manchmal erreicht man das Ziel eben nicht. Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder man verkriecht sich und packt nichts mehr an oder man geht erhobenen Hauptes ohne Selbstzweifel den Berg des Lebens wieder runter und versucht ein anderes Mal wieder hochzulaufen oder sucht sich einen neuen Berg. Nur im Tal, da sollte man nicht bleiben, nur weil es einmal nicht geklappt hat.
So gehe ich also den gleichen Weg wieder runter. Es ist immer noch dunkel. Mein Haupt ist erhoben und mein Gemüt sehr entspannt, denn vielleicht war dieser Erfahrung und Erkenntnis, dass man manchmal nicht alles erreichen kann, aber nicht immer die Schuld bei sich suchen sollte, viel schöner und wertvoller, als der Sonnenaufgang.
2 Kommentare
Wieder mal ein toller Post mit Tiefgang und du hast recht, es führt nicht jede Anstrengung zum Ziel, nur aufgeben sollte man dann nicht. Ist nicht immer leicht, aber Kopf hoch und weiter machen ist das einzige, das hilft. Solche Erfahrungen sind es doch, die uns stark machen und auf die man nach einiger Zeit trotzdem gerne zurückblickt. Ich denke wir feiern Erfolge viel zu wenig und lassen uns von missglückten Versuchen zu sehr runterziehen. Wie habe ich kürzlich noch gelesen „hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen“. Zwar etwas übertrieben mit der Krone, aber irgendwie passend.
Wunderbarer Text! Vielen Dank, dass du uns an deinen Gedanken teil haben lässt. Aber trotzdem hätte ich es dir gegönnt, den Sonnenaufgang zu sehen ;-)