Slums. Gefängnisse. Konzentrationslager. Es sind alles Dinge, die ihren geschichtlichen Wert haben. Es sind aber auch Dinge, die als Tourismusattraktionen fungieren und jährlich Millionen von Menschen anziehen und ihnen das Geld aus der Tasche ziehen. Es ist wie bei einem Autounfall. Eigentlich will man wegschauen, aber eigentlich geht es auch nicht und so geht das Gegaffe los. Möglichst lange wird gestarrt, geglotzt und gegafft. Ätzend.
Ich war jahrelang ein Gegner von genau diesen Geschichten, vom sogenannten Dark Tourism. Das ist eine Form von Tourismus, bei der Menschen bewusst an Orte reisen, die normalerweise mit Hass und Tragödie assoziiert werden.
Ich habe es gehasst Eintritt zu zahlen, um mir Orte anzuschauen, an denen in der Vergangenheit Millionen von Menschen gestorben sind oder Orte, die einen anderen ähnlichen Hintergrund haben. Nie, wirklich nie, wollte ich für Dark Tourism auch nur einen Cent zahlen und habe es nie verstanden warum Menschen dort hingehen.
Ok, man könnte jetzt meinen, dass etwas wie ein Konzentrationslager zur Geschichte Deutschlands gehört und, dass man, gerade als Deutscher, nicht die Augen schließen darf und es sich angucken sollte. Ich habe bewusst immer wieder einen Bogen darum gemacht. Warum? Weil es mich nervt, wenn aus Geschichte Kommerz wird, wenn aus Geschichte Dark Tourism wird. Ich hasse es, wenn es an solchen Orten einen Eintritt gibt, wenn im Gefängnis in Kambodscha „angebliche“ Ex-Insassen, die gerade so dem Tod entkommen sind, sitzen und mir ihre Geschichte gegen Bezahlung erzählen wollen oder vielleicht sogar sollen. Ich hasse es auch, wenn ich in einem Gefängnis in Ghana einen Souvenirshop finde und mich noch mit Postkarten versorgen kann. Mal ehrlich, wer kauft diese Sachen? Wer schickt eine Karte aus einem ehemaligen Gefängnis, in dem Tausende Schwarzafrikaner gefoltert wurden? Wer sind die Personen, die auf Dark Tourism, oder die Kunst des Gaffens stehen? Diese Person möchte ich gern kennenlernen und auch ihr eine Geschichte erzählen, gerne gegen Bezahlung.
Es gibt dabei natürlich die andere Seite, die mit der Bildung zu tun hat. Das Reisen an Orte der Vergangenheit bildet, es lässt Menschen verstehen und begreifen, was damals passiert ist. Es ermöglicht eine Art Zugang zu Dingen, die wir eigentlich nur aus Dokumentationen oder Geschichtsbüchern kennen.
Dennoch, für den Großteil solcher Attraktionen zählt der Konsum mehr, als die schiere Bildung.
Ich möchte gerne noch einen Schritt weitergehen: Dark Tourism ist nämlich nicht nur Tourismus, bei dem man sich nicht mehr aktive Gefängnisse oder ehemaligen „Stätten“ anschaut. Nein, es ist mittlerweile zum Sensationstourismus geworden. „Komm wir gehen uns die Armen anschauen“ – das ist in etwa die Essenz von Dark Tourism, die Essenz der Touren, die Schaulustige durch Armenviertel, Slums, Kinderheime oder Sterbehospize in vielen der Entwicklungsländer führt. Bis vor kurzem fand ich diese Art von „Tourismus“ abartig. Ich habe die Menschen nicht verstanden, die eine Tour durch ein Armenviertel machen und dabei womöglich noch einem rosa Regenschirm folgen und rechts und links Fotos von Kindern, Älteren oder Behinderten machen. Warum? Um euren Verwandten zu Hause zu zeigen wie gut es euch doch geht?
Ich bin selbst einmal in einen Slum an der Elfenbeinküste gegangen, und das auch nur, weil ich alte Klamotten hatte, die ich gerne loswerden wollte. Dabei habe ich nicht ein Foto geschossen, geschweige denn Geld für eine Tour bezahlt und so sollte es auch sein.
Vor kurzem, in Indien, allerdings hat sich das Blatt gewendet. Indien ist mehr oder weniger „berühmt“ für die vielen Slums. So schlimm es auch klingt, aber so ist es nun einmal. Allein in Mumbai gibt es 2000 Slums und das sind nur die Legalen. Wer weiß, wie viele illegale Viertel sich dort noch gebildet haben. Schon bei meiner Vorbereitung auf die Reise hatte ich das Gefühl, dass es dazu gehört in einen Slum zu gehen, wenn man in Indien ist. Eigentlich Schwachsinn. Die Inder denken sicher auch nicht, dass sie unbedingt die Plattenbauten sehen wollen, wenn sie mal in Berlin sind. Warum ich unbedingt einen Slum in Indien sehen wollte? Weil ich das Buch Shantaram gelesen habe und der Hauptcharakter mehrere Monate in einem Slum in Mumbai gelebt und gearbeitet hat. Keine Rechtfertigung, ich weiß.
Eine gute Freundin schickte mir eine SMS mit der Empfehlung in Mumbai UNBEDINGT eine Slumtour zu machen. Oh, nein. Jetzt werde ich einer dieser Dark Tourism Gaffer, der mit dem Fotoapparat durch die Gassen läuft und versucht möglichst schreckliche Bilder zu schießen. „Reality Tours“ heißt der Anbieter und bevor ich voreilige Schlüssen ziehe, wollte ich mir erst einmal einen Überblick von der Website schaffen. Der Slogan ist „See the real India“. Naja. Indien ist ja nicht nur Armut, Hütten, Slums und Bettler. Indien ist Farbe, Spiritualität, scharfes Essen und Kultur. Aber gut, das ist nun einmal der Slogan. Meine Freundin hat mir die Dharavi Tour empfohlen. Dharavi ist ein Slum, der wohl größte in Asien, der eine knappe Million Menschen beherbergt. Eine Million Menschen, das ist eine ganze Menge. Dieser Slum ist aber auch sehr, sehr wirtschaftlich unterwegs. Es gab genau einen Satz auf der Seite, der meine Meinung zu der Tour änderte: “Our company is a social business. 80% of all profits is used for the activities of our sister organisation and NGO (charity) Reality Gives.” Ein soziales Unternehmen, das 80% seiner Einnahmen direkt in den Slum oder in andere Projekte steckt. Überzeugt. Ich habe die Tour gebucht und los ging es: meine erste Erfahrung im Dark Tourism.
In einem Taxi fuhr ich zusammen mit dem indischen Guide Richtung Slum. Auf dem Weg passierten wir die größte Open Air Laundry der Welt und den Straßenstrich Mumbais. Bis dahin folgte ich weder einem rosa Regenschirm, noch wurde ich auf Dinge aufmerksam gemacht, die ich besonders „begaffen“ sollte. Nein, mir wurde aus erster Hand erklärt warum Dinge so sind und nicht anders. Und auch die Tour durch den Slum war anders als erwartet. Es wurde nicht mit dem Finger auf Armut, Hunger und Dreck gezeigt. Im Gegenteil: es wurde gezeigt, wie geschäftig die Menschen im Dharavi Slum sind, wie sie sich mit ihrem Leben auf kleinstem Raum arrangiert haben und wie generell der Alltag in einem Slum aussieht – nämlich nicht anders, als jenen, den wir führen. Übrigens durfte ich gar keine Fotos machen – aus Schutz vor gaffenden Menschen: so soll es sein!
Ich muss also meine radikale Ansicht gegenüber Dark Tourism ändern. Ja, es gibt sie, diese Touren, in denen man mit Bussen von A nach B gescharrt wird, um die ehemaligen historischen Stätten zu „begaffen“. Gleichzeitig gibt es aber auch Touren, die genau das erreichen, was andere Hilfsorganisation seit Jahren versuchen und woran sie kläglich scheitern: sie schaffen es das Bild der „Besucher“ gegenüber Armut und anderen radikalen Dingen zu ändern und schaffen es, dass das Geld genau da hingeht, wo es gebraucht wird.
Ich möchte mit diesem Artikel nicht sagen, dass ich gegen den Besuch von Konzentrationslagern, Gefängnissen oder anderen historisch behafteten Stätten bin. Nein, überhaupt nicht. Ich wünsche mir, dass es weniger konsumausgerichtet wird, weniger als eine Art Attraktion gesehen wird und mehr als eine Art Museum. Ich möchte nicht, dass es einen Souvenirladen in einem Konzentrationslager gibt und ich möchte auch keine Fotografen vor einem Gefängnis sehen, die mir direkt mein Bild ausdrucken.
Fraglich bleibt natürlich, ob man sich diese Dinge überhaupt anschauen soll. Warum eine Slumtour? Warum ein alten Gefängnis anschauen? Warum in ein Konzentrationslager gehen? Ich weiß es nicht, aber ich habe auch gelernt, dass Ignoranz genauso fatal ist. Also hier ist der Mittelweg: ein offenes Auge für gewisse Sachen ist gut, Fotos von Hunger, Armut und anderen Dramas sind unnötig.
7 Kommentare
Interessanter Artikel, auch wenn mir als Kultur- und Sozialanthropologin Begriffe wie “Schwarzafrikaner” oder “Entwicklungsländer” extrem aufstoßen. Da gibt es politisch korrektere Wörter. Grundsätzlich bin ich aber mit dir einer Meinung, diese Art von Sensationstourismus, bei dem Touristen durch Slums gekarrt werden oder Postkarten in KZs verkauft werden ist auch absolut nicht meins.
Liebe Grüße,
Ela
Hey Ela, danke für deinen Kommentar. Was wäre für dich ein adäquates Wort für “Entwicklungsland”?
Liebe Anne, ich habe genau die gleiche Erfahrung gemacht wie Du! Auch ich habe vor etwa einem Jahr die Tour durch Dharavi gemacht mit Reality Tours und ich fand es super! Das Geld für den “Eintritt” wird gespendet und war somit gut angelegt. Fotos dürfen nicht gemacht werden was ich vollkommen in Ordnung fand. Die Tour war super eindrücklich und zeigt eben vor Allem, dass es in Dharavi nicht nur Arbeitslosigkeit, Dreck und Hunger gibt…wir wurden überall begrüsst, es wurde gelächelt und vor allem: Gearbeitet!! Dharavi- eine Stadt in der Stadt! Super Erfahrung und absolut zu empfehlen…
Hey Katrin! Oh schön, dann teilen wir ja die gleiche Faszination :)
“Ich möchte mit diesem Artikel nicht sagen, dass ich gegen den Besuch von Konzentrationslagern, Gefängnissen oder anderen historisch behafteten Stätten bin. Nein, überhaupt nicht. Ich wünsche mir, dass es weniger konsumausgerichtet wird, weniger als eine Art Attraktion gesehen wird und mehr als eine Art Museum.”
Hm, gut, dass Du das noch erwähnt hast. Meine Frage ist nur: Wie bringe ich die Leute denn jetzt dazu, sich in einem Museum ausstellen zu lassen? (Ach, das hatten wir schon mal, damals, jaja…> siehe Hamburger Zoogeschichte, harhar.)
Scherz beiseite und im Klartext, den Du ja hier auch deutlich rausgelassen hast: Mich nerven Leute, die ihre Vorurteile über Menschen kippen. Dass die Einrichtungen auch bezahlt werden müssen, weil da ja schließlich restauriert/dokumentiert/Führungen veranstaltet werden sollen, ist Dir schon bewusst? Dass manche Menschen sich vielleicht einfach über die weniger tollen Seiten eines Landes informieren möchten ziehst Du in Betracht? Und letztendlich: Dass z.B. solche Townshiptouren/Einrichtungen etc. logischerweise von uns reichen Touris bezahlt werden sollten und es auf _jeden_ Fall um Konsum geht, weil es hier um eine Umverteilung des (unfair verteilten) Geldes gehen soll – ist Dir das bewusst? Ist Dir bewusst dass diese Leute teils überleben wollen? Dass das ihr Job ist, den sie tun, von dem sie sich das Essen kaufen jeden Tag? Ich sage gar nicht, dass alles optimal läuft oder mich nicht auf der eine oder andere Souvenirstand nervt. Aber es wäre wirklich schön gewesen, das ganze ein bisschen differenzierter zu betrachten und andere Meinungen in Erwägung zu ziehen, bevor Du Deine über alle drüberkippst, die teilweise um Ihr täglich Brot kämpfen müssen.
Hey Inka, mir ging es ja in dem Artikel gar nicht darum zu sagen, dass es diese Einrichtungen nicht geben soll, dass die Menschen dort nicht arbeiten sollten und generell, dass wir zum Beispiel keinen Eintritt für gewisse Einrichtungen zahlen sollten. Mir ging es einzig und allein um die Sensation dahinter, um das Schaulustige daran und darum, dass viele Touristen häufig nicht aus schierem Interesse in gewisse Einrichtungen gehen, sondern weil sie ein Bild davor haben wollen oder sich unbedingt dort ein Souvenir kaufen wollen. Klar ist das auch eine Art der Einnahme und klar werden viele Einrichtungen auch hauptsächlich durch Souvenire bezahlt und erhalten, weil sich keine andere Organisation dafür verantwortlich fühlt. Aber, und das wollte ich hiermit zum Ausdruck bringen, es muss nicht sein, dass Menschenhorden durch einen indischen Slum schießen und Bilder machen, um ihren Verwandten und Freunden Zuhause zu zeigen wie “arm” Menschen sein können. Also zurück zum Klartext: ich bin nicht gegen die Einrichtungen, ich zahle auch gerne den Eintritt, aber es regt mich auf, wenn Touristen mit ihrer Kamera herumrennen Fotos machen, Souvenire kaufen und aus einem historischen Ding eine Art Sensation machen.
Danke für den Artikel! Mir geht es ähnlich bei Besuchen von “Bergvölkern” oder anderen Bewohnern in abgelegenen Regionen der Welt. Ich fühle mich immer unwohl, wenn ich in ihre Welt eindringe – ohne sie nachher auch nur im Ansatz verstanden zu haben (was ja oft das Argument der Touristen ist, warum man solche Touren mitmachen sollte). Aus diesem Grund meide ich seit mehreren Jahren solche Touren zu entlegenen Völkern – das ist mir einfach zuviel “Zoo-Gefühl”, was ich keinem antun möchte.