Es ist Samstag. Einer von den Samstagen an denen man von den hellen Sonnenstrahlen im Schlafzimmer wach wird, die durch die Spalten des Vorhangs scheinen. Ich stehe auf, ich schnappe mir Boris und drehe meine tägliche Rund. Als ich um die Ecke eines Spätis gehe, sehe ich eine Frau auf einer Bierbank sitzen. Eine junge Frau mit Sonnenbrille auf der Nase, einer selbstgedrehten Kippe in der Hand und einem Buch vor sich auf dem Biertisch liegen. Ich kenne diese Frau nicht, aber als sie so da saß, hat sie mir binnen Sekunden ein Gefühl gegeben, dass ich schon lange nicht mehr hatte und das ich sehr vermisse. Das Gefühl der Unbeschwertheit und Leichtigkeit.
Es war in meinem ersten Jahr in Berlin, als ich verkatert an einem Samstagmorgen auf der Bierbank vor einem Späti saß und versuchte mir den Kater mit einer Club Mate wegzutrinken. Es waren Slomo-Samstage. Ich chattete mit Freunden, traf Verabredungen für den See, kaufte mir Eis gegen den Brand und rauchte Kippen schon vor meiner eigentlichen „Erst nach 18 Uhr Raucherregel“.
Es war mir alles egal und ich genoss diesen Zustanden. Es gab auch nichts, worüber ich mir Gedanken machen musste.
Es hat sich viel geändert in den letzten Jahren. Ich glaube, man nennt es erwachsen werden. Ich weiß nur, dass ich damit so gar nicht klar komme.
Ich kann nicht noch länger an der Ecke stehen und die junge Frau anstarren. Boris hat den Laternenmast schon dreifach bepinkelt und zieht Richtung Heimat. Ich gehe weiter und denke über das Gefühl nach, an das ich erinnert wurde und welches mir anscheinend, so sagt mir wenigstens mein Herz, sehr fehlt.
Früher, da saß ich an einem Samstagmorgen mit Konterkippe vor dem Späti. Heute, da bin ich beschäftig, entweder damit das Altglas zum Container zu bringen oder Versicherungen abzuschießen. Und wenn ich nicht beschäftigt bin, dann bin ich es trotzdem, nämlich mit dem Runterkommen. Dann plane ich, wie ich mich von meinem durchgeplanten Leben erhole.
Früher, da habe ich mich freitags auf eine Party gefreut. Heute da freue ich mich aufs Bett.
Und samstags da hole ich nicht die Kühlmaske aus dem Gefrierschrank um meine Augenringe vom Saufen zu kühlen, sondern meine Schwellungen vom Weinen zu bekämpfen. Geweint habe ich in letzter Zeit viel. Die Gründe sind banal. Ich weinte über das Leben und dem Lauf der Dinge. Ich weinte über die Ungerechtigkeit der Welt und die Trauer über den Verlust. Und ich weinte ganz oft, weil ich dachte, ich müsste doch alt genug sein und damit zurecht kommen. Aber ich tue es nicht. Vielleicht auch nie. Wenn etwas schreckliches passiert, dann fühle ich mich wie damals, als ich sechs Jahre alt war. Dann weine ich und weine und hoffe, dass jemand kommt und mir über das Haar streichelt, mich in den Arm nimmt und sagt, dass alles gut wird. Doch es kommt niemand. Und mein Kopf fällt nicht an eine Schulter sondern ins Nichts. Und manchmal wird es einfach nicht mehr gut. Nicht mehr so gut wie früher. Aber es kann besser werden.
Früher, da dachte ich immer es ist etwas dran an dem Satz, was nicht tötet, härtet ab. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich werde nicht härter, nur immer müder.
Ich bin so müde vom Stark sein.
Es strengt mich unglaublich an immer und immer wieder das Gute und den Sinn in allem zu suchen. Aber genau das macht mich aus. Christine, die immer lacht. Ich bin ein optimistischer Mensch. Ich will das Gute und den Sinn sehen doch vielleicht ist genau das manchmal der Fehler. Mir selbst nicht eingestehen zu wollen, dass es an manchen Sachen nichts Gutes gibt. Das man sie einfach akzeptieren muss in all ihrer Grausamkeit. Aufgeben.
Früher, da habe ich mir Gedanken darüber gemacht, ob ich so verrückt bin und mir Schuhe für 200 Euro kaufe. Heute, finde ich es verrückt mich fragen zu müssen, ob ich meine Eltern mal pflegen könnte?
Es geht mir gut, keine Angst. Das traurig sein gehört zum Leben und das ist gut. Denn erst wenn es einem richtig schlecht geht, dann fühlt es sich an, als wären alle Sinne auf Reset gesetzt. Erst dann kommt es mir manchmal vor, als würde ich wirklich begreifen, dass ich lebe.
Früher, da haben ich gelebt. Heute kommt es mir oft so vor, als wäre ich ständig damit beschäftig zu überleben.
Es tut gut das zu schreiben, denn das bin ich. Das bin ich auch. Das Mädchen, das ein Mädchen bleiben will. Nicht nur das Mädchen, das immer durch die Welt reist und nur mit Sonnenschein gesegnet ist. Ich bin die Frau, die sich oft den Kopf zerbricht an all den Fragen des Lebens. Die Frau, die auch traurig ist, nur bekommt es nie einer mit. Vielleicht will ich das auch gar nicht.
Denn manchmal, da brauche ich einfach Zeit für mich und Zeit über das Leben nachzudenken um es in all seiner schönen Schrecklichkeit begreifen zu können. Zeit um meinen Kopf wieder aufrecht halten zu können.
Früher hätte ich mich nicht getraut das zu schreiben. Heute weiß ich, wie zerbrechlich ich eigentlich bin und das Schwäche zeigen einen stark macht.
Ich weiß, dass ich auch nach diesem Text oft weinen werde. Doch das Mädchen in mir und mein Optimismus wird mich immer glauben lassen, dass alles wieder gut wird und das Schicksal zeigt es mir auch immer wieder. Es tut gut das zu schreiben, denn ich habe mir lange nichts mehr von der Seele geschrieben.
Vor allem wenn jemand geht, da frage ich mich oft, was ich einmal über mein Leben denken möchte, wenn ich alt und grau bin. Früher dachte ich mir – ich möchte es einfach gelebt und keine Chance verpasst haben. Die Zeit hat meine Gedanken geformt. Es gibt mir mehr für diejenigen da zu sein, die gerade sehr müde sind und eine Stütze brauchen, als jede Chance wahrzunehmen. Ich möchte zwar immer noch denken, dass ich mein Leben gelebt habe, aber vor allem möchte ich, dass wenn ich alt und grau bin jemand meine Hand hält. Meine Liebe, mein Kind, meine Freunde.
Und ich möchte aufhören an Früher zu denken, denn das behindert das JETZT und das, ist das Einzige was wir haben.
Nachtrag: Es ist schon ein bisschen her, dass ich diesen Text geschrieben habe. Ich habe ihn ein paar Wochen liegen lassen um den Beweis zu bekommen, dass nach dem Regen wieder Sonnenschein kommt. Die letzte Woche in Portugal, war die schönste Woche dieses Jahres. Vielleicht, weil ich endlich angefangen haben das JETZT zu genießen.
23 Kommentare
Schlimm das ich mit 20, mich doch ein bisschen ( ein bisschen zu viel) in diesem Text wieder finde. Finde ihn aufjedenfall sehr gut geschrieben. Sollte mir vielleicht weniger Gedanken machen und ein bisschen mehr Leben.
Guter Vorsatz!
Ein wunderschöner und mich sehr berührender Text! Und irgendwie macht er mir Mut. Zum einen durch deinen letzten Absatz, aber auch, da man merkt, dass man mit solchen Gedanken gar nicht mal so allein ist, wie man oft denkt!
Danke <3
Wir sind eigentlich alle gleich :)
Hallo Christine,
wenn Du da am Meer sitzt und auf das Meer schaust und Du die Weite schaust und nichts um dich herum spürst als das Rauschen des Meeres dann verliert sich die Zeit und die Gedanken verschwinden im Hintergrund. Ich glaube so wie Du denken das viele. Und ich finde es ganz schön mutig so zu schreiben. Aber Du spürst es geht Dir gut wenn Du Dir das von der Seele schreibst. Du machst das schon richtig mit dem Schreiben und Du kannst gut schreiben. Manchmal ist es notwendig die vielen Gedanken die im Kopf sind auszuleeren. Dabei ist es am besten wenn man mit den Händen beschäftigt ist. Zeichnen,schreiben, handwerken, basteln. All das sind Dinge mit denen man den Kopf leer machen kann. Aber auch autogenes Training usw. Es ist das Sympton unserer Zeit dass wir fast nichts mehr mit den Händen schöpfen. Auf der anderen Seite werden die Informationen, Signale, Eindrücke immer mehr. Da muß man von Zeit von Zeit den ganzen Mist ausleeren. Saufen hilft da wenig weil die Gedanken da eher ins Unterbewußtsein abwandern und dort wirken. Ich kann mir schon vorstellen das der Urlaub in Portugal richtig gut getan hat weil dort eben nicht so viel um einen herum zugeht. Bleib Dir
treu und geh Deinen Weg.
Fritz
Lieber Fritz, vielen, vielen, lieben Dank für deine schönen Worte. Ja, Portugal tat sooo gut!
Leichtigkeit. Vielleicht springe ich auf dieses Wort so an, weil es Mein Wort 2016 ist. Keine Vorsätze. Nur ein Wort. Manchmal vergesse ich, dass ich dieses Wort gewählt habe, dann erinnere ich mich zum Glück wieder.
Seither lese ich von der Leichtigkeit immer mal wieder irgendwo. Jetzt gerade hier.
Jedes Mal frage ich mich, warum sie so schnell hops geht und wie wir sie dauerhaft bekommen können und warum sich so verdammt viele mit ihr beschäftigen.
Ich bin auf einem guten Weg. Aber auch beim nächsten Text auf einem Blog oder Magazin oder sonstwo in dem auch die Leichtigkeit mitschwingt werde ich hängen bleiben und mich fragen: warum wir sie plötzlich suchen müssen?! Und wo uns dieser Zeitgeist hinführt …
Ein schöner Text von dir. Ich glaube, wenn Regen und Sonne den Regenbogen bringen, dann haben Tränen und Optimismus bestimmt auch eine bezaubernde Wirkung.
Alles Liebe
Tanja
Liebe Tanja, ein wunderschöner Vorsatz. Ist Leichtigkeit das neue Glück? Und auch das Sonne und Regen den Regenbogen bringen. Daran habe ich noch nie gedacht :)
Liebe Christine, ein zauberhafter Text über das Leben. Es gehört eben einfach dazu: Hoch und runter, lachen und weinen, Ankunft und Abschied, Mut und Verzweiflung. Diese ehrlichen, ruhigen Texte von dir schätze ich besonders. Alles Liebe.
Dankeschön!
Ich habe dieses Gefühl auch oft: Dass die Tage nur so an mir vorbei ziehen, ohne, dass ich sie wirklich gelebt habe! Das ist irgendwie ein ätzendes Gefühl, denn am Ende der Woche sitze ich da und frage mich, was ich eigentlich gemacht habe. Also für MICH für mein Leben und das, was mich ausmacht.
Nur einmal, in Kapstadt, hatte ich das Gefühl, dass ich ganz und gar gelebt habe. Ich hatte das Gefühl, die Menschen dort, ihre Lebenseinstellung und die Stadt selbst haben das von mir so gefordert. Und das war gut. Deshalb gehe ich jetzt dorthin zurück. Wenn ich es alleine nicht schaffe, vielleicht kann mir ja ein anderer Ort, an dem das Feeling stimmt, dabei helfen :)
Vielleicht lebt man auf Reisen einfach mehr… ist mehr bei sich selbst. Und wenn man am Meer ist. Da bin ich mir ganz sicher. Es ist jedenfalls schön zu lesen, dass dir Portugal so gut getan hat und ich danke dir für deine Ehrlichkeit – da fühlt man sich nicht so alleine ;)
Alles Liebe,
Kath
Liebe Kath, ja ich frage mich oft, ob an einem anderen Ort alles besser ist? Deswegen möchte ich unbedingt einen Sommer am Meer verbringen.
Hoffentlich klappt das 2017.
Hallo Christine,
“Früher, da haben ich gelebt. Heute kommt es mir oft so vor, als wäre ich ständig damit beschäftig zu überleben.”
Und? Ist doch gut so. Überleben ist einer unserer innersten Urinstinkte. Wie wir das bewerkstelligen hängt von von vielen Faktoren und unserem Umfeld ab. Es ist gut sich damit sich zu beschäftigen wie führe ich ein gutes und zufriedenes Leben. Auch ist es gut über früher nachzudenken. Aus den Erfahrungen der Vergangenheit, ob nun persönlicher oder globaler Natur ist egal, haben wir die Chance zu lernen und uns weiter zu entwickeln. Zum Leben gehören nun mal Regen und Sonnenschein, beides gehört dazu. Es gehört zum Gleichgewicht. Natürlich kostet es Kraft weiter zu machen, hinfallen, aufstehen und wieder hinfallen und wieder aufstehen. Immer weiter machen und wenn dir jemand einredet, du kannst das nicht, probier’s aus. Du wirst dann schon merken ob du es kannst oder nicht. Spaß daran zu haben, währe natürlich von Vorteil :-). Und wenn du Spaß daran hast einen Sommer am Meer zu verbringen, dann mach das und versuche das irgendwie hinzubekommen. Wir haben nur ein Leben. Für mich wäre es nix, ich mag kein Wasser. Ich habe meine Zufriedenheit und Glück in den Bergen gefunden. Und, sehr schön geschrieben von dir -> Chapeau. Gruß aus Franken
In die Berge will ich auch noch einen Sommer ;)
Ein grandioser Beitrag und ich muss zugeben, dass der echt extremst zum Nachdenken anregt…
Ich habe aber für mich festgestellt, je älter ich werde, desto sorgenfreier werde ich… Ich mache mir lange nicht mehr so einen Kopf um “Kleinigkeiten” und lasse das Leben einfach machen…so lebt es sich tatsächlich entspannter ;-)
Liebe Christine!
Wow!! Was fuer ein schöner Text!! Mir geht es oft genauso. Ich habe gerade einen sechsmonatigen endlosen Sommer hinter mir, in dem ich nur mir selbst überlassen war. Eine Wahnsinnserfahrung. Ich bin mehr im Hier und Jetzt, das macht aber das Kitesurfen/ surfen mit mir. Und ich hab sehr viel geweint, über verpasste Chancen, Umweltverschmutzung, Armut, meine mangelnde Selbstliebe. Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mir selbst Schwäche erlaubt. Hängen, heulen, fühlen ohne zu urteilen, ohne dieses innere “reiss dich mal zamm” und “genug gejammert” – Gedrill! Wer immer die starke ist, darf auch mal schwach sein. Danke für deinen schönen Blog!
Danke dir, für die lieben Worte und mach weiter so!
Toller Artikel, ich bewundere Dich, wie Du Deine Gefühle so gut ausdrücken kannst !!
Ich bin froh, dass Du am Ende sagst, dass Du dieses Tief überwunden hast. Wahrscheinlich warst Du einfach gerade etwas “down”, da macht einen dann alles viel schneller fertig, als wenn man guten Mutes ist.
Ganz liebe Grüsse,
Martina
Liebe Christine
Was für ein schöner Text! Manchmal frage ich mich auch, wo sich meine Leichtigkeit versteckt. Jaja, das Partymachen jedes Wochenende. Ich vermiss es nicht. Und wenn ich heute mal Party machen gehe ist es dafür toll! Weil es keine Routine mehr ist.
Och, war das Leben schön.
Huch, auch mit 30 ist es noch schön und mit 40 und 80 :)
Liebe Grüsse
Iris
Wie es mit 40 ist kann ich noch nicht sagen. Aber 30 passt ;)
Achjaaaaa du sprichst mir aus der Seele!
Es ist einfach ein täglicher Kampf….
So schön, dass es mal in Worte gefasst wurde :)
<3
Ein wunderschöner Text! Vielen Dank dir für deine Worte!
Auch ich finde mich darin wieder, nur dass ich die Leichtigkeit in meiner Jugend und Kindheit leider übersprungen habe. Vor meinem jetzigen Job habe ich sie kurze Zeit erlebt, nun suche ich wieder. Aber ich werde sie finden und auch wenn niemals alles gut sein wird, weil das Leben nicht so ist, wird es doch gut genug sein und ich werde niemals die Hoffnung aufgeben am Ende wieder glücklich zu sein!
Liebe Grüße
Das ist genau der richtige Ansatz!