„Hello. I am Jon and you, you are so tiny.“ Ich stehe im Nirgendwo. Auf einer Landzunge in Westisland, zwischen roten Holzhäusern und dem weiten Ozean vor einem Mann, dem ich in den nächsten Stunden mein Leben anvertraue. You are tiny… Ich weiß nicht, ob dieser Satz sehr beruhigend ist, wenn man gleich eine sechsstündige Gletscherwanderung in Island machen möchte. Vor mir steht ein fast zwei Meter großer Bergführer. Von Kopf bis Fuß steckt er in Funktionskleidung mit Funkgerät und trägt einen Rucksack, der so groß ist, als würde er damit fünf Tage auf ein Festival fahren. Oh mein Gott. Mein Gesicht läuft knallrot an und ich schäme mich zu Tode, als mir meine Situation nun vollkommen bewusst wird. Ich bin völlig underdressed. Vor zwei Stunden war ich noch felsenfest davon überzeugt, dass ich in Jeans und EMU Boots den Gletscher Snæfellsjökull besteige. Beim Anblick des Guides verschwand aber meine Zuversicht.
„Ähm, kann ich in den Schuhen laufen?“, fragte ich zaghaft und zeigte auf meine EMUs.
„Nein!“
Ich renne zum Auto und hole Plan B. Ein paar tropfnasse Nike-Turnschuhe. „Und die?“
Er schütteln ungläubig den Kopf.
„Nein.“
Und dann musste ich nur noch antworten…
„Hast Du noch andere Schuhe dabei?“
„Nein.“
„Hast Du Handschuhe dabei?“
„Nein.“
„Sonnencreme“?“
„Nein“
Ich bin doch in das 14 Grad kalte Island gefahren. Da ist natürlich nicht das Erste, an was ich denke Sonnencreme.
„Und eine Sonnenbrille?“
Ich habe die Sonne bis jetzt noch gar nicht gesehen.
„Nein.“
„Hast Du eine Mütze?“
„Ja.“ Und eine Funktionsjacke, die fast jeder deutsche Tourist auf dieser Insel trägt. Doch ich bin mit meiner Canada Goose Jacke schon ein Sonderling. Denn bei den Deutschen hat ganz klar The North Face die Funktionsjacken-Herrschaft an sich gezogen und dazu trägt man als guter Tourist eine 7/8 Hose von Cecil und vielleicht noch eine Steppweste und auf jeden Fall einen deuter Rucksack. Ehrlich gesagt, dachte ich, mit meiner Funktionsjacke bin ich unverwundbar und kann alles überstehen.
„Hast Du einen Rucksack?“
„Ja.“ Doppel-Ja! Jackpot! Mein Gefühl ein unvorbereiteter Outdoor-Vollidiot zu sein, legt sich kurz und mein schlechtes Gewissen so unvorbereitet hier aufzukreuzen auch.
„Zeig mal deinen Rucksack?“
Ich strecke Jon stolz meinen Rücken entgegen.
„Da sind ja gar keine Schlaufen für den Eispickel dran.“
Keine Schlaufen für was? Eispickel? Für was brauchen wir einen Eispickel? Was ist ein Eispickel? Meine Schamesröte im Gesicht wechselt zum entsetzten Bleichgesicht. Ich habe diese Tour völlig unterschätzt. Falls ich die nächsten sechs Stunden überlebe, werde ich aber auf jeden Fall Crumpler eine Mail schreiben und nachfragen, warum sie denn bitte keine Schlaufen für einen Eispickel an ihren Rucksack gemacht haben…
Eine halbe Stunde später stecken meine Füße voll mit Blasenpflastern in zu kleinen Schuhen von Jons Frau, die sie mir geliehen hat. Ich hätte sie von oben bis unten abknutschen können, ebenso Jon, der mir alles geliehen hat, was er mir leihen konnte. Außer die Hose. Da habe ich immer noch meine Jeans an und ich glaube, ich bin die erste Frau, die den Gletscher Snæfellsjökull mit Jeanshose erklimmen wird. In jeglichen Situationen wende ich meine Weisheit hat: „Geht nicht, gibts nicht.“ In diesem Fall glaube ich irgendwie daran heute „geht nicht“ zu begegnen…
Wir stehen am Fuße des Gletschers vor Bárður Snæfellsás, eine Sagenfigur aus dem Westen Islands. Jon erzählt die Geschichte von Bárður und dass er von Leuten der Gegend als eine Art Schutzgeist angesehen wird. So auch von Jon, der Bárður um eine sichere Wanderung bittet. Ich stehe vor der steinernen Statue und werde ganz ruhig. Jon holt einen Stapel eingeschweißter Karten aus seiner Hosentasche und hält sie mir hin.
„Ziehe eine Karte, die dich auf der Wanderung begleiten wird.“, fordert er mich auf. Ich ziehe eine Karte und lese den Spruch. Und sofort schießen mir Tränen in die Augen, denn passender hätte er nicht sein können.
„Remember that you a perfect in your imperfect form. You are here to learn.“
Es passte wie die Faust aufs Auge. Das ich sehr „imperfect“ hier aufgekreuzt bin, habe ich schon bewiesen. Jetzt muss ich nur noch lernen, dass es vielleicht nicht schlimm ist, weil es eben Menschen, wie Jon gibt, die mich auffangen, die mir helfen und mich perfekt machen oder wenigsten halbwegs perfekt ausstatten für eine Gletscherwanderung in Island. Es ist nicht so, als hätte ich ein Problem mit meiner Unperfektheit. Ich habe mich mehrere Jahre damit beschäftigt. Ich habe meine Diplomarbeit darüber geschrieben. Ich kann sehr gut mit meinen Schwächen leben. Ich weiß, ich bin manchmal sehr verwirrt, ich kann mir keine Namen merken, fahre Auto wie eine Schnecke und habe eine impulsives Gemüt. Doch manchmal bekomme ich das Gefühl anderen nicht zu genügen. Sie geben mir das Gefühl, dass meine Fehler unerträglich sind, dass ich sie damit nerve und belaste. Heute bin ich also hier, um das zu lernen. Um zu lernen darüber zu stehen. Entweder man akzeptiert mich so oder eben nicht. Ich kann nicht alles können und auch nicht alles richtig machen. Sechs Stunden habe ich Zeit darüber nachzudenken. Es geht los.
Wir wandern das erste Stück über Lavafelder und Flüsse. Moosbewachsene Steine wechseln sich mit weichen Sand ab. Jon erklärt uns die erste Regel der Wanderung: Sicherheit. Wer versucht alleine den Gletscher hochzulaufen ist ziemlich dämlich. Noch dämlicher als jemand, der in Jeans und EMUs zur Gletscherwanderung kommt. Das kann ich euch sagen. Dem kann wenigstens noch vorab geholfen werden. Aber wenn man ohne Guide in eine der Gletscherspalten fällt, ist man weg. Wie sagt man so schön: „Vom Erdboden verschluckt.“
Wir erreichen die erste Schneezunge und blicken auf den Weg zurück. „Jedes Jahr verschwinden eineinhalb Meter der Schneedecke.“, erzählt uns Jon und ich merke seine Bekümmertheit in seiner Stimme. Jon und seine Frau Maggy haben eine Vision. Sie sind keine geldgeilen Tourguides die Touristen durch die Gegend fahren. Sie möchten mit GO WEST ökologische Touren anbieten. Eben auf einen Gletscher laufen, anstatt sich mit der Schneekatze hochfahren zu lassen. Jons großer Traum ist ein Hostel in Arnastapi zu bauen. Natürlich eco-friendly und dazu ein Informationszentrum über den Gletscher. Er ist gerade dabei den Businessplan zu schreiben und ich drücke ihm so die Daumen, dass es klappt, denn solche Menschen braucht die Insel. Menschen, die die Insel und Natur respektieren und darauf achten, dass unsere Enkel auch noch das erleben können, was wir dort erleben durften.
Wir laufen nach einer kurzen Pause weiter. Es wird steiler und steiler. Um uns herum ist nur noch Schnee. Jon hinterlässt Fußspuren in die ich tapsen kann. „Das war einmal ein Skigebiet, wir laufen gerade die schwarze Piste hoch.“ Ich war die ganze Zeit tapfer und habe nur auf den Boden und Jons Fußstapfen geschaut. Jetzt neigt sich mein Kopf leicht nach rechts, ich sehe den Abhang und fall vor Schreck um. Zum Glück in Richtung Hang. Ach da sind sie wieder, die guten Tränen in der Augen, aber diesmal aus Angst. Es ist extrem steil und ich habe schreckliche Höhenangst. Wir halten erneut an, ziehen Schneeschuhe mit spitzen Spikes an, steigen in unseren Klettergut und verbinde uns mit einem Seil. „Das Seil muss immer gespannt sein, ok?“. „Ok“. Es geht weiter. Noch eine Stunde steil Berg auf, vorbei an dem Rolling Stone, einem großen Laverfelsen von dem ab und zu ein pechschwarzer Stein in den schneeweißen Schnee kullert. Ich versuche mich Jons Tempo anzupassen und weiterhin in seine Fußstapfen zu treten. Das spart Energie. Ach, da bin ich mein ganzes Leben, Tag ein Tag aus damit beschäftigt neue Wege zu gehen, die vor mir noch keiner gegangen ist, kämpfe mich durch wildes Gestrüpp und muss oft über Hindernisse springen. Manchmal fall ich sogar in eine Grube und habe ganz vergessen, wie schön es ist, mal in die Fußstapfen von jemand anderes zu treten und sich ihm voll und ganz anzupassen. Ein anderes Tempo annehmen. Ich bin in Gedanken versunken und merke gar nicht, dass wir endlich eine waagrechte Stelle erreicht haben. Jon bleibt stehen, bäumt sich auf, reißt die Hände in die Höhe und schreit: „Danke Bárður! Danke, dass wir das machen können, dass wir stark genug sind hier hochzulaufen.“ Er schaut in den Himmel, ich schaue in den Himmel. Und jetzt kullert eine Träne meine Wange herunter. Herrje, was ist denn heute los mit mir? Aber das ist wirklich alles so ergreifend. Die Natur, der Anstieg und seit langem sind meine Gedanken wieder einmal glasklar und ich verstehe, was Jon sagen möchte. Ich müsste einen doppelten Glückssalto schlagen. Ich kann hier sein, ich kann das absolvieren, ich bin an diesem wunderbaren Platz. Gesund und munter. Ich muss an meine Eltern denken, besonders an meine Mama. Sie würde es nicht mehr hier hoch schaffen. Sie werden nicht mehr das sehen können, was ich gerade sehe. Vielleicht wollen sie das auch gar nicht. Aber irgendwie tut es mir leid und ich nehme mir vor, mich beim nächsten Besuch ganz lange hinzusetzen mit ihnen und ihnen all das auf Fotos zu zeigen und zu erzählen, was ich gerade sehe, damit sie es doch irgendwie „erlebt“ haben.
So! Tränen wegwischen und weiter geht es. Noch eine Stunde. Es ist die längste Stunde meines Lebens. Ich kann nicht mehr. Meine Füße schmerzen, meine Beine schmerzen, mein Rücken schmerzt. Bei jedem Schritt habe ich das Bedürfnis laut zu schreien: „Ich kann nicht mehr.“ Ich fange an mich abzulenken und mir Überschriften zu diesem Post auszudenken. „Dummheit kommt vor dem Fall“ oder „Eine Wanderung und drei Heulattacken“ oder „Der Gletscher und die Blue Jeans.“ Verdammt. Ich beiße die Zähne zusammen. Ich kann den anderen nicht die Freude auf den Gipfel nehmen. Ich muss weiter gehen. Ich muss weiter gehen. Ich muss weiter gehen. Ich rede mich in Trance und da endlich kommt der erlösende Satz von Jon: „Wir sind da“. Dicke Wolken ziehen an uns vorbei. Ich sehe eine schwarze Bergspitze und auf der anderen Seite der Spitze Gletcherspalten, die blau schimmern und das Meer. Es ist Totenstille. Ich höre nur die Wolken an mir vorbei ziehen. Ich muss die Überschrift von meinem Post doch noch Mal in „Eine Wanderung und VIER Heulattacken.“ ändern. Da läuft schon wieder was die Wange runter. Scheiße ist das schön! Und ach ja: Geht nicht, gibt es nicht!
Gletscherwanderung in Island
Wunderschöne Farbenpracht
Halbzeit
Die Profi-Schuhe. Kannte ich vorher nur aus Filmen
Der Gipfel
Jon von Go West
Was für ein Blau
Gletscherspalte
Die Rolling Stones
Vielen Dank an Go West für dieses unvergessliche, unvergessliche Erlebnis!
10 Kommentare
❤
Oh, was für ein wundersamer Post!
Ganz ehrlich: ich komme aus Österreich mitten aus den Bergen, und ja, ich wäre wahrscheinlich ähnlich ausgerüstet wie du da aufgelaufen;)
Ich wette, das kommt öfter vor *g*
Du hast diese geführte Wanderung ganz allein gemacht? Hut ab, das würde ich zwar auch gern an sich mal machen, aber ob ich mich alleine dort hin trauen würde? ??
Danke für diesen Bericht!!!
LG
Mira
so der Guide war dabei und noch ein anderer Teilnehmer
Entschuldigung – wie dämlich muss man sein, um einen Gletscher ohne passsendes Schuhwerk und Sonnebrille besteigen zu wollen? Dass der Guide dich mitgenommen hat, ist Selbstaufopferung. Das ist lebensgefährlich für den gewesen! Ich habe für so etwas absolut kein Verständnis. Null. Wer reist, sollte sich vorher informieren. Wer das nicht tut ist dumm. Und lebensmüde.
Dazu sag ich nur – du kannst noch mal! Ich glaube nicht, das mein Leben an einer Sonnenbrille hängt. Und wenn du richtig gelesen hättest, dann würdest du wissen, dass ich Schuhe bekommen habe…
Wow! So anschaulich und super geschrieben, dass auch ich heulen musste. Klasse Text, der meine Reiselust nach Island noch mehr verstärkt hat. <3
Dankeschön!
Sehr cooler Bericht! Das mit den Klamotten hätte mir auch passieren können :P
Dankeschön!
Da sieht man, wie wichtig gute Ausrüstung ist! :) Wie ich letzten Sommer ins Mont-Blanc-Massiv fuhr, schlenderte ich erst mal in den Unterwegs-biz-Laden in der Oldenburger Innenstadt wo mich gleich zwei verschiedene Verkäufer zuquakten und mit reinredeten, was ich allerhand an Gegenständen so nötig habe und wieso ich es erstmal nicht mit der Zugspitze probiere. Naja, Stiefel, Stock und eine feste Hose hatte ich schon im Schrank, aber Helm? Spikes? Klettergurt mit Karabinern? Ogottogott! So oder so: Ich fuhr da voll ausgerüstet hin und kam lebend wieder zurück, nur entgleiste die blöde Zacke auf 1’800 m, und ab da musste ich hochschnaufen. Da half auch die Ausrüstung nix.