Es gibt Länder, die faszinieren mich wegen ihrer Einzigartigkeit – wie Indien. Es gibt Länder, die begeistern mich mit ihrer unwirklichen Natur – wie Chile. Und es gibt Länder, die inspirieren mich mit ihren Menschen – wie Südtirol. Schon so oft war ich in der Region, meistens im Meraner Land, und jedes Mal komme ich zurück und muss an die vielen tollen Begegnungen denken, die meine Weltanschauung ein bisschen auf den Kopf gestellt haben und mich immer wieder zum Nachdenken bringen. Die Begegnungen mit den Menschen, die ihr Leben einmal komplett umgekrempelt haben, die alles auf eine Karte gesetzt und auf ihr Herz gehört haben. Diese Geschichten zeigen mir immer wieder, auf was es ankommt und vor allem, was alles möglich ist.
Höre zu und habe Mut!
„Ja, wir haben zum richtigen Zeitpunkt die richtige Entscheidung getroffen.“ Arnold hat sich nach dem Essen zu uns auf die Holzbank neben dem Kamin gesetzt. Es gab Brennessel-Knödel zur Vorspeise, mit Bärlauchcreme gefüllte Teigtaschen auf Spargelragout und ein Glas hauseigener Vernatsch dazu. Das Gemüse kommt bis zum Herbst aus dem Garten in St. Leonard, das Wildfleisch vom Jagdverband, die Eier vom Schlernhof und das Rind vom befreundeten Bergbauern. Dafür hat sich Arnold entschieden – saisonal, regional und gut!
Seit 1777 gibt es das Gasthaus Lamm, den „Hof vor dem Friedhof“, schon. Von seinem Vater hat er es übernommen und vor 10 Jahren alles geändert. Die Tapete mit dem Holzdruck wurde herunter-, der Fliesenboden rausgerissen, eine alte Stube gekauft und maßgeschneidert in den Hof eingebaut. So wie früher sollte es wieder aussehen. Jetzt ist es wieder ein uriges Gasthaus, mit Holzdiele und holzverkleideter Bar. Es stehen alte Bauernmöbel im Eingang und es liegen karierte Kissen auf den Sitzbänken. Arnold hat zum richtigen Zeitpunkt auf den richtigen Rat gehört, das Schnitzel von der Karte genommen und sich der Slow Food-Bewegung angeschlossen. Mit dem Gasthaus Lamm ist er im Slow Food-Guide gelistet und viele Menschen kommen nur deshalb zu ihm. Aber auch die Einheimischen lieben seine Küche, die Kuttelsuppe im Herbst und die Brennessel-Knödel im Frühjahr.
Hätte er damals nicht den Ratschlag befolgt, das Schnitzel von der Karte zu streichen und sich den traditionellen und regionalen Gerichten zuzuwenden, hätte er eine Gaststätte wie jede andere. So ist der Gasthof Lamm im Herzen von St. Martin ein ganz besonderer Ort. Ein Familienbetrieb, in dem die Frau mit dem einen Sohn in der Küche steht und Arnold mit dem anderen Sohn die Gäste bedient. Ein Gasthaus, in dem alles auf den Teller kommt, was die Natur gerade anzubieten hat und in dem, aus Respekt zum Tier, eine Kuh von Kopf bis Schwanz verarbeitet wird. Deswegen gibt es im Herbst auch die Kuttelsuppe.
Was ich gelernt habe: Genau zuzuhören, wenn andere einen Ratschlag geben und den Mut haben, Dinge zu verändern.
Vergesse nicht das Kind in dir
Sie ist eine Erscheinung. Ihr sanftes Lächeln, ihr kräftiges, graues Haar, ihre strahlenden Augen. Edeltraud läuft mit mir durch die Sieben Gärten des Kränzelhofs. Gleich zu Beginn stehen wir vor einer Weggabelung. „Jetzt musst du entscheiden, wo du langgehen willst.“, erklärt mir Edeltraud.
Alle Wege führen in den Garten. Der eine direkt, der andere mit einem kleinen Umweg. Die Weggabelung soll den Besuchern beibringen, Entscheidungen zu treffen und das Vertrauen zu gewinnen, dass es die richtigen sind. Wir gehen weiter durch die Gärten, laufen das Lebenslabyrinth, kochen Tee aus frischen Kräutern und halten einmal ganz kurz inne, um zu spüren, wo unsere Mitte ist. Wir nehmen uns Zeit, was mittlerweile eine Seltenheit geworden ist.
Ich bin angetan von Edeltrauds Ruhe und ihrer kindlichen Freude, wenn sie etwas entdeckt, das ihr gefällt. Während der Tour durch den Garten sehen wir einen Mitarbeiter. Edeltraud erzählt uns, dass er von der Caritas kommt und hier einen Einstieg in den Beruf bekommt. Sie schwärmt von seiner Begeisterung für jedes Tier, das er sieht und dem er stundenlang zuhören könnte, und in welch einer meditativen Art er seine Arbeit verrichtet.
Ich mag es, wie sie sagt „in einer meditativen Art“ und nicht „lahm wie eine Schnecke“. Denn das ist es, an was man im Berufsleben gemessen wird. An Leistung, an Geschwindigkeit. Da will ich mich nicht rausnehmen, ich denke auch so bei meinen Mitarbeitern. Doch Edeltraud bringt mich zum Nachdenken. Jemand, der bedacht und langsam ist, der kann im normalen Berufsleben nicht überleben. Wir dürfen uns keine Zeit lassen. Wir müssen schnell sein. Die Erlebniswelt Sieben Gärten ist ein Ort, der mir viele Dinge indirekt vor Augen führt. Bevor ich wieder gehe, sehe ich Edeltraud, wie sie auf der Schaukel sitzt und durch die Luft weht. Sie strahlt, sie lacht, sie nimmt sich Zeit, um den Moment zu genießen.
Was ich gelernt habe: Menschen nicht nach Schnelligkeit messen und das innere Kind, das sich über Kleinigkeiten freut, stärker zu Wort kommen lassen.
Nach einer Niederlage kommt ein Neuanfang
„Nein, da bin ich zu positiv“, sagt Hannes und schenkt uns ein Glas Wein ein. Ich bin mit Gerd und dem E-Bike im Meraner Land unterwegs. Er zeigt Gästen bei seiner Tour Orte, an die auch die Einheimischen gehen, und Menschen, die viel zu erzählen haben. Bei Hannes vom Biedermann Hof bekommen die Gäste eine kleine Weinverkostung aus dem hauseigenen Keller. Seit ein paar Monaten ist der Hof jedoch eine Baustelle. Gerd wollte den Stopp deswegen aber nicht aus dem Programm nehmen, denn Hannes braucht jetzt jede Unterstützung.
Letztes Jahr ist der Stall neben seinem Haus abgebrannt. Die Sicherung bei einem Traktor ist durchgebrannt, es sind Funken gesprüht und Hannes hat vom Weinberg aus schon die dicken Rauchschwaden gesehen. Schnell ist er zum Feuer gerannt, hat noch versucht, es zu löschen, doch konnte nichts mehr retten. Die Scheune ist mit all seinen Geräten abgebrannt und das kurz vor der Ernte. Ein wirklich schwerer Schicksalsschlag für einen Weinbauern.
In solchen Situationen möchte man am liebsten den Kopf in den Sand stecken und aufgeben. Aber nicht Hannes. „Es war zwar ein bisschen mühselig, aber in ein paar Tagen hat er alle Geräte geliehen, die er für die Ernte brauchte. Aufgeben? Niemals. Jetzt baut er alles wieder neu auf und dazu auch noch einen Pool für seine Ferienhaus-Gäste.
Was ich gelernt habe: Man kann an Schicksalsschlägen zu Grunde gehen, oder sie als neue Chance sehen! Als Neuanfang! Was man aus der Situation macht liegt immer an einem selbst und der Einstellung, das Glas halb voll oder halb leer zu sehen.
Ich brauche keinen Psychologen, ich habe einen Weinberg
Ich frage mich oft, ob die Menschen aus Südtirol einfach anders sind. Mich begeistert jedes Mal diese Verbundenheit zur Natur, der Stolz auf ihre Landschaft und die Wertschätzung ihrer Produkte. Mein erster Stopp bei der Sissi-Tour mit dem E-Bike ist der Biobauernhof Schnalshuber. Ich stehe vor einem wunderschönen Hof aus dem Jahr 1640, der schon lange unter Denkmalschutz steht. Ganz besonders ist das Zeitungszimmer, ein Stubenraum, der vor vielen Jahren mit Zeitungen aus dem Jahre 1870 und 71 begradigt wurde. Die Zeitungen kommen jetzt alle nach und nach wieder zum Vorschein.
Das Herz und die Seele des Buschenschanks ist der Schnalshuber selbst. Ein Mann im besten Alter. Ein Charmeur. Eine Persönlichkeit. Ich hätte eigentlich erwartet, dass er mir etwas vom denkmalgeschützten Haus erzählt, von der Geschichte, der Speisekarte oder der Erfolgsgeschichte seines Hofs. Und die ist definitiv ein Erfolg, denn um einen Tisch zu bekommen, muss man Monate im Voraus reservieren. Aber irgendwie verlief das Gespräch anders.
Wir kamen auf Berlin und dann auf Wien, wo er studiert hat. Er erzählte mir die Geschichte, wie er für seine Studienkollegen Löwenzahn von der Wiese vor der Uni gepflügt hat, um einen Löwenzahnsalat daraus zu zaubern. Wie er eines Tages durch Wien gelaufen ist und einen Hahn krähen hörte. Er versuchte herauszufinden, zu welchem Haus der Hahn gehören könnte, klingelte und fragte, ob ihnen der Hahn gehört. Er hatte gleich beim ersten Mal Glück. Die Familie wollte sich schon für das Krähen entschuldigen, weil sie dachte, es hat ihn vielleicht gestört. „Aber nein, ich wollte doch nur fragen, ob ich ein paar Gaggerle kaufen kann.“ – Das war doch logisch für ihn. Die Eier auf dem direkten Weg beziehen und aus Löwenzahn einen Salat machen. Das verwenden, was vor der Tür vorhanden ist.
Die Zeit in Wien war toll für ihn. Er reiste oft durch die Welt, nach Berlin, in die Slowakei und wieder nach Wien. Schön ist es überall, doch am schönsten zu Hause in Südtirol. Da, wo man alles hat. Nicht nur an frischen, regionalen Produkten, sondern auch am Seelengut. Täler, Wälder, Berge, Seen und den eigenen Weinberg vor der Haustür. Eine Region, in der die Kuh noch einen Namen hat und aus Respekt vor dem Tier alles vom Kopf bis Fuß verwendet wird.
„In 90 Minuten bin ich in Venedig und trinke einen Kaffee – das ist Lebensqualität für mich.“ Solche Gespräche machen mich immer nachdenklich. Was ist für mich Lebensqualität? Auf was lege ich Wert im Alltag? Was sind unbegrenzte Möglichkeiten und braucht man sie? Für den Schnalshuber ist auf jeden Fall klar: „Ich brauche keinen Diplompsychologen, ich habe einen Weinberg“ und „Ich will mit niemanden tauschen“. Menschen, die durch und durch zufrieden sind, die trifft man selten. Und wenn, dann wohnen sie in Südtirol!
Was ich gelernt habe: Mein Leben zu überdenken. Meine Entscheidungen zu überdenken. Was macht mich glücklich? Wie einfach und nahe liegend sind manche Dinge und wir sehen sie nicht? Brauche ich die Banane aus Südamerika? Oder tut es auch ein Apfel aus Südtirol?
Ich glaube, was mir wichtig ist im Leben ist Authentizität. Echte Gesten und echte Worte. So saß ich bei der E-Bike Tour irgendwann bei Gerd zu Hause im Garten und er hat Pasta für uns gekocht, während ich mit seiner Tochter Federball gespielt habe und seine Frau uns einen Kaffee gemacht hat. Dann saß ich da am Tisch und fühlte mich so wohl und willkommen bei Menschen, die ich nur wenige Stunden und Minuten kannte. Ich wurde so gastfreundlich aufgenommen. Nicht nur bei Gerd, sondern auch im Apfelhotel im Passeiertal. Hier hat Maria mit ihrem Freund und dem jüngeren Bruder das Hotel von den Eltern übernommen. Sie sind für die Gäste da, sie kümmern sich und man merkt, dass sie das alles wollen und kein bisschen Zwang dahinter ist. Auch die Leidenschaft von Janett ist so ansteckend. Sie verzaubert jeden Tag die Gäste vom Restaurant Onkel Taa. In der Küche stehen Blumenvasen mit frischen Kräutern, die sie zum Verzieren nimmt. Etwas Neues ausprobieren und ihre Gäste damit zu begeistert – das macht sie glücklich. Ich könnte bald einen Roman schreiben, über all die tollen Menschen. Ich komme wieder. Ganz bald. In das Meraner Land, zu den wunderschönen Bergen, den bezaubernden Tälern und unvergesslichen Menschen.
Was ich gelernt habe: Man muss auch lernen, Gastfreundschaft zuzulassen. Das fällt mir schwer. Ich will immer keine Umstände machen und niemanden stören. Doch ich werde immer besser darin.
5 Kommentare
Griaß Di Christine,
vielen Dank und Kompliment für die tolle Reportage. Bei Deinen ganzen Beiträgen bekommt man wirklich Lust zum Reisen, ach wenns nur nicht bei uns so schön wär…:-)
Ein herzliches, südtirolerisches „Pfiat di“…Christian
haha schön, dass es dir gefällt! Im September darf ich wieder zu euch kommen!:)
Hallo Christine,
das hast du jetzt so toll geschrieben, dass ich mich am liebsten selbst als Gast auf unserer Sissi Radtour um Meran begleiten möchte :-)Komplimente
Dankeschön :)