Ich habe mal die gewagte These gehört, der Mensch stamme vom Affen ab. Seit dem Nova Rock zweifle ich nicht mehr daran. Vier Tage Ausnahmezustand in der Wüste Österreichs.
Das Nova Rock findet Mitte Juni auf einem Feld in Nickelsdorf/Österreich, nahe dem Neusiedler See, unweit von der ungarischen Grenze statt. Hier im Burgenland befindet sich der tiefste Punkt Österreichs. Der Veranstaltungsort wird auch liebevoll „Wüste“ genannt. Hier auf dem Festivalgelände gibt es keinen Baum und kein Wasserloch, dafür aber so richtig schön viel stechende Sonne. Nicht umsonst wird das Burgenland auch „Land der Sonne“ genannt.
Es finden sich zu einem Festival in der Regel Menschen zusammen, die einer bestimmten Gruppe angehören: also sich mit der gleichen Musikrichtung identifizieren und diese durch ihren Stil nach außen hin repräsentieren. Beim Nova Rocks zum Beispiel sind das Leute aus der Hard Rock-, Metal- und Mosh- Szene.
Wie Christine letztes Jahr schon ganz gut festgestellt hat, ist so ein Festival zusätzlich ein willkommenes Ventil. Ein Wochenende lang mal so richtig Ausrasten: shice auf die Regeln der Gesellschaft. Evolution? Zivilisation? Bitte was? Ausrasten is´! Einfach mal den Trieben nachgehen. Ich bin kein Festivalneuling, aber was mir da auf dem Nova Rock begegnet ist, das habe ich noch nicht erlebt. Sei es wegen der Tatsache, dass ich es hier mit gewaschenen Rockern zu tun hatte, oder Christines Theorie, dass die Österreicher den deutschen wenigstens im Festival-machen überlegen sein wollen …
Warum war ich eigentlich da?
Nachdem ich meinen Marketing-Job gekünfigt habe, und mein Praktikum beim Radio zwar grandios ist, mir aber keinen Cent einbringt, musste diesen Sommer ein Job her. Der sollte aber im Preis-Leistungs-Verhältnis ordentlich sein, nicht langweilig und auch irgendwie potential für Schreiberei haben. Man darf ja wohl Ansprüche haben. Im Idealfall darf es auch was draußen sein und was womit man rum kommt. Voilà: nun verkaufe ich auf Festivals Kaffee. Aber nicht so doof aus einem Stand raus, sondern schön mit 10 Liter Ghostbuster-Rucksack auf dem Rücken mitten drin im Getümmel! Das ist gut, da kann ich neben dem Geld verdienen gleich ganze Sozial-Studien durchführen.
Als „Kaffeefrau“ versorgt man ein bestimmtes Gebiet (hier: Caravanparkplatz) morgens bis spät-nachmittags mit (Eis-)Kaffee. Das heißt, man trifft die Leute in regelmäßigen Abständen gut 3-8 Mal am Tag. Da lässt sich der menschliche Zerfall grandios dokumentieren.
Was habe ich also gesehen?
Donnerstag: Der Dreckpegel ist beeindruckend! Meinen Erfahrungen nach sieht es so auf deutschen Festivals erst am Samstag aus. Scheinbar wollen die Besucher keine Zeit verlieren – wer weiß ob das Festival nicht doch wie die letzten Jahre durch Sturmwarnungen vorzeitig abgebrochen werden muss? Es gilt, so schnell wie möglich den Höhepunkt zu erreichen. Schon am Donnerstag liegen die Besucher – weitestgehend männlichen Geschlechts – reihenweise komatös am staubigen Straßenrand. Es scheint sich ein furchtbarer Virus mit dem Namen „Delirium“ ausgebreitet zu haben. Wer seinen Namen noch tanzen kann, hat irgendwas falsch gemacht. Man bewegst sich lieber rückwärts als vorwärts, oder robbt über den Boden.
Freitag: Die Stimmung auf dem Caravanparkplatz ist freundlich und aufgeschlossen. Es gilt seine Zeltnachbarn kennenzulernen und ein bisschen zu Smalltalken – wer später busseln mag, macht sich schonmal vorsichtlich bemerkbar – dabei bemüht man sich um einen guten Ton: „Ich bin auch sehr hygienisch. Ich habe heute schon geduscht.“ Manch einer hat sich in eine lustige aber noch unaufdringliche Verkleidung geworfen. Gegen Nachmittag ist es den Männern dann aber schon egal, wo sie hinpinkeln. Man bleibt einfach an Ort und Stelle stehen und düngt die Straße. Vereinzelt kommt es vor, dass Männer ihr unerregtes Glied ein bisschen baumeln lassen – Frischluft muss her. Andere positionieren sich vor der Frau und spielen ein bisschen an sich rum – wie man das halt so macht.
Vielleicht später … gerade eher nicht so! Das sind Bibi und Tina …
Da wacht man gerne auf …
Am Abend spielen beim Nova Rock Rammstein – von allen Seiten strömen die Leute wie Ameisen zu diesem Spektakel. Auf der weitläufigen Wiese verlaufen sich die Massen dezent, sodass es sich locker bis zum ersten Brecher vorschlendern lässt. Die Statur und Haltung vom Rammstein-Frontman erinnert mich irgendwie an einen Faun: zu kräftige Oberschenkel bei zarten Unterschenkeln und leichte Kackstellung, damit er sich seine geballten Fäuste immer wieder kraftvoll im Takt der Musik auf die bemuskelten Oberschenkel boxen kann. Das Ganze unterstützt von einer wahnsinns Pyro- und Feuershow und ganz viel Theater und TamTam (zB fake-onaniert der Frontman zu „Bück Dich!“ eine ordentliche Ladung Schaum auf ´s Publikum).
Rammstein
Samstag: Ausnahmezustand! Mehr Penisse als am FKK-Strand gesehen. Für die vorsichtigen gibt es den Schottenrock als kleine Tarnung. Da fallen genug Frauen drauf rein und nehmen Ihnen die Arbeit ab. Ab Nachmittag ist aber auch dieses Accessoire hinfällig – wer sich geniert klebt die Eichel dann doch mit Panzertape ab, man will dann ja doch nicht alles preisgeben! Boratanzüge sind auch mit am Start. Wer gestern noch subtil geflirtet hat, macht heute keinen Hehl mehr draus. Schön zu sehen, wenn die Töpfe beginnen zu den Deckeln zu finden. Mittlerweile wissen die Jungs, dass ich nüchtern und zum Arbeiten da bin. Hier und da versuchen sie es nochmal, finden dann aber schnell willigeres Frischfleisch – man lässt sich weitestgehend in Frieden – man hat seinesgleichen gefunden. Über Nacht haben manche ihren Nachbarn ein ganz besonderes Präsent da gelassen – zwei wohlgeformte Kackwürste zieren das Planschbecken einer Gruppe. Dabei haben doch genügend Leute extra ihre eigenes kleines Shicehäuschen gebastelt – mit orentlichen Wänden und einem schönen Loch im Boden. Häufig muss der Krankenwagen anrücken um Alkoholleichen aufzupäppeln. Makaber aber dringend erwähnenswert: eines dieser Exemplare liegt am Straßenrand, irgendwann mal hat er sich schützend den Arm vors Gesicht gehalten, darauf prangt groß ein Tattoo mit dem Schiftzug: UNDEAD. Ein paar Wohnwagen weiter liegt ein Mitt-vierziger mit heruntergelassener Hose im Kreis seiner Freunde und checkt nichts mehr. Das stört seine Freunde aber keineswegs. Köstlich amüsiert hocken sie zwischen seinen Beinen und spielen vor den Augen ihrer Frauen mit dem komatösen Unterteil herum. Neulich erst war ich im Zoo. Warum eigentlich, wenn es auch österreichische Rockfestivals gibt? Wie die Affen!
Nova Rock-Camp
Er sucht die Bierkiste, die sie letztes Jahr dort vergraben haben…Und hat sie bis heute nicht gefunden.
Virus-kranker: Delirium
Am Abend fehlt den Leuten die Kraft für Acts wie Deichkind und Kiss. Man erscheint zwar zahlreich, die Stimmung ist aber mau. Kiss sind davon sichtlich betrübt: „Nova, you´re getting tired, aren´t you?“ Mir schmerzen die Füße, aber ich bin angefixt und fühle mich wie ihr größter Fan. Als der Frontman die Menge auffordert seinen Namen zu rufen, damit er sich in die Menge stürzt, weiß jeder Zweite seinen Namen nicht. Beim dritten Mal klingt „Paul“ immer noch verhalten, aber er zieht seine Show bravourös durch – die Jungs wissen wie man rockt, ich bin schwer beeindruckt. Weniger so diejenigen, die sich neben der Bühne zum Schlafen legen.
Bei Kiss kann man schonmal ne Runde chillen… NICHT!
Kiss
Sonntag: Katerstimmung und ein bisschen Trübsal blasen. Viele packen schon zusammen – morgen beginnt wieder das wahre Leben, mit all seinen Regeln und Dresscodes. Denjenigen die bleiben, gehen langsam die Ideen und vor allem die Kraft aus. Kartenspiele und „Wer bin ich“ halten als Beschäftigungtherapie her. Die Leute schauen allesamt etwas bedröppelt drein, sitzen schließlich schon seit drei Tagen so in ihrem Kreis herum. Auch die Nackerten haben sich wieder angezogen und wir kennen uns wieder. Denn sie brauchen Kaffee, ganz viel Kaffee!
Am Abend spielen die Sportfreunde Stiller – eine souveräne aber auch etwas austauschbare Show. Es folgen die Brüder und Cousins um Kings Of Leon mit mir in der vierten Reihe. Ich bin enttäuscht wie an Weihnachten, wenn ich kein Pferd bekommen habe: Outfit-mäßig wurde da nicht viel nachgedacht. Rosa-Orange Blockstreifen und weißes Durschnittsshirt wie bei der Schülerband. Der Frontman trägt schwarz, wie zuvor auch der Veranstaltungstechniker der sein Instrument eingestimmt hat: schwarz, die Farbe um auf der Bühne nicht aufzufallen und schwarz, die Farbe um für nichts und niemanden zu werben. Auf einer Leinwand auf der gestern noch Feuer und Flammen gezeigt wurden, sieht man jetzt durchweg den durchschnittlich hübschen Frontman, wie er sich 10 Mal die Minute das Haar hinters Ohr streicht – ja gut ich habs verstanden… Paradox: Trotz „Closer“ nutzen im Publikum alle die letzte Chance auf Crowdsurfing – minütlich kommt von hinten ein Mensch, den die zarten Mädchen in den ersten Reihen natürlich nicht stemmen können, und so küssen die meisten dann kurz vorm Ziel nochmal den Boden. Aber nun gut, was habe ich erwartet, das sind nunmal nicht Kiss. Und ihre Musik läuft eh schon wieder im Hintergrund.
Kings of Leon
Weil ich nicht mehr stehen kann lege ich mich ins Zelt und schlafe zu „Sex on Fire“ ein – das Abschlussfeuerwerk weckt mich wieder: es geht so lang und heftig, dass ich mich aus meinem Zeltinneren fragen muss, ob nicht doch das ganze Pyrolager explodiert..
Fazit:
Ich bin wirklich froh, das Spektakel Nova Rock erlebt zu habe. Nach vier Tagen Dauerbeschallung war ich zwar heiser vom dagegen anschreien und auch etwas genervt, dafür habe ich aber sogar ein bisschen Gefallen an der Musik gefunden.
Ich kann die nächsten Festivals und ihre Besucher kaum erwarten, schließlich gilt es weiter Feldforschung zu betreiben: wie gestaltet der allgemeine Festivalbesucher vier Tage Ausnahmezustand am Stück? AUF AUF :)
Disclaimer: Tausend Dank an Gesa, dass sie dieses waghalsigen Erfahrungsbericht durchgezogen hat. Ich werde jetzt den ganzen Tag den onanierenden Frontmann im Kopf haben und mich fragen, ob sie dem Opfer mit dem “LASS MICH NICHT ALLEINE”-Schild wenigstens einen Kaffee dagelassen hat.
12 Kommentare
Genialer Beitrag, in jeder Hinsicht!! Darum hab ich auch bewusst aufs Novarock verzichtet und lediglich festivals an nem see gewählt (in der hoffnung dass es nicht ganz so schlimm zugehn wird) :)
Ich glaube es liegt an Österreich nicht am fehlenden See ;)
Als ich deinen Eintrag über das Nova Rock Festival entdeckt hatte, freute ich mich darauf ihn zu lesen.
Nachdem ich damit fertig war stellte ich mir die Frage:” Waren wir beide am selben Festival”?
Es ist mir klar, dass man als Kaffeeverkäuferin vieles sieht und auch viel von dem Getümmel mitbekommt.
Jedoch hab ich bemerkt, dass du großteils nur die negativen Aspekte aufgezählt hast.
Dein Text vermittelt, das sich die gesamte “Festivalgemeinde” daneben benimmt, der Großteil davon sturzbesoffen ist und jeder zweite sich entblößt.
Ich möchte dich keinesfalls kritisieren. Ich finde es sogar toll, das du über das Nova Rock schreibst.
Mir fehlen lediglich die positiven Erfahrungen, von denen es sicher ein paar gegeben hat.
Es war heuer mein 5. Nova Rock und ich kann bestätigen, dass es auf diesem Festival um einiges verrückter zu geht als auf anderen. Das gemütlichere und etwas friedlichere Festival kommt erst im August :)
Super geschrieben! Ich war 2010 beim Nova Rock und kam 3 Tage nicht aus dem Staunen über die Leute raus. Da wurde die Musik echt ganz schnell zur Nebensache… Muss man einfach mal erlebt haben ;-)
Na jetzt mach uns Österreicher mal nicht ganz so schlecht :) aber wenn man sich das so durchliest, muss man sich doch fast ein wenig schämen für seine Landsleute ;) Bin jetzt dann am InMusic Festival, Urban Art, Balaton Sound, Sziget & Chiemsee Reggae Summer & hoffe dass es nicht so extrem wie oben beschrieben wird – über en paar letzte Lebensrettende Tipps von dir freu ich mich natürlich – du Pro :)
Genialer Bericht! Auf manchen Festivals sind die letzten Acts die ganz großen. Hier reißt sich wahrscheinlich jeder darum, gleich am Anfang aufzutreten damit die Meute noch was mitbekommt :-)
Hey Lila, danke für deine Kritik. Auch wenn das vielleicht alles etwas abstoßend klingt, fand ich das Festival aber durchweg fein :) War ja größtenteils dann doch eher lustig, eben nur erschreckend ;P Und jetzt wo ich vom Southside zurück bin, fällt mir auf, wie viel “friedlicher” das Nova dann doch war…zumindest was ich erlebt habe. Mein Highlight: Die Wasserschlachten ;)
Hallo!
Interessant geschriebener Beitrag mit interessanten Geschichten und Erlebnissen.
Ich hab’ selbst dort gearbeitet (war meiste Zeit aber in einem Bürocontainer, hab jedoch trotzdem viel mitbekommen) und bin schon seit dem ersten Nova Rock 2005 dort (immer arbeitenderweise).
Allerdings war ich auch auf vielen, vielen, vielen anderen Festivals in Österreich, und es sei erwähnt, dass das Nova Rock ein eigenes Phänomen ist. Das Publikum am Frequency zum Beispiel ist wiederum ganz anders (wenn auch teilweise nicht sonderlich reifer). Das Urban Art Forms ist als Elektronikfestival der alternativen Sorte wieder eine komplett andere Geschichte. Das Beatpatrol (auch Elektronik, allerdings kommerziellere und alternative Acts gemischt) haben wieder ein durchmischteres Publikum, und das kleine, aber feine Picture On (mein persönliches Lieblingsfestival) hat sowieso mehr von Familienfest tagsüber und Party mit Freunden in der Nacht.
Wie auch immer, es kommt nunmal auf’s Festival an, nicht darauf, ob Österreich oder Deutschland.
Oft musste ich mir bei der Arbeit anhören, wie toll es doch in Wacken läuft. Ja, das ist bestimmt so. Nur sind die Pannonia Fields nunmal nicht Wacken. Und das Nova ist kein Metal-Festival. Dementsprechend gibt es ein anderes Publikum.
Und die Leute am Nova sind übrigens eher nicht so in eine Genre-Richtung zu schieben. Klar, Rock (und teilweise auch Metal) sind die stärksten Fraktionen, aber noch lang kein Kriterium um dort Besucher zu sein.
In den letzten Jahren wurde das Nova Rock sowieso immer mehr zu einer großen Matura-Feier.
So, irgendwas musste ich jetzt zu der ganzen Sache schreiben. Und das habe ich nun getan.
PS: Der Caravan-Platz ist inzwischen übrigens teilweise schlimmer als der Campingplatz, so in Richtung Anarchie etc.
Heeeey geiler Bericht!!!!
Das Festival war sehr geil!!!! Und die am Samstag angesprochenen borat Leute war ich mit zwei Kollegen, aber wir sind aus Deutschland am Bodensee beheimatete ;) hehehe