Vielleicht kennt ihr diese Situation. Ganz sicher kennt ihr die Situation, wenn ihr in Berlin wohnt. Da kommt ein Obdachloser in die S-Bahn, möchte eine Zeitung verkaufen oder einfach nur um etwas Geld fragen und schlagartig gehen alle Köpfe der Fahrgäste nach unten, tippen angestrengt auf ihrem Smartphone rum oder lesen die Zeitung. Ich finde solche Situationen anstrengend, weil ich nicht wusste, was ich tun soll. Geld geben, nein danke sagen, wegschauen? Diese Hilflosigkeit ist einer der Gründe, warum sehr viele Menschen in Berlin an der Obdachlosen Stadtführen teilnehmen. Hier bekommen sie Berlin aus der Sicht eines Obdachlosen gezeigt. Wir haben die Tour für RTL Punkt 12 begleitet. Unseren Beitrag könnt ihr hier sehen. Ich würde mich sehr freuen, wenn ihr ihn anschaut, denn es ist ein Thema, das mir wichtig ist.
Kleines Beispiel aus dem Leben: gestern Abend am Kottbusser Tor. Mutter und Kind laufen die Straße entlang, nach dem Einkauf, mit vollen Tüten. Vor dem Supermarkt sitzt ein Obdachloser, auf einer Isomatte und mit einem Schild vor den Füßen: “Eine kleine Spende, bitte!”
Kind: Guck mal Mami, der Mann da. Wieso sitzt der denn auf dem Boden?
Mama: Ach, der hat kein zu Hause.
Kind: Wieso denn nicht?
Mama: Weißt du, manche Leute gehen einfach nicht regelmäßig zur Schule. Da passiert sowas.
Kind: Wirklich?
Mama: Ja. Und dann trinken alle auch viel zu viel. Komm schnell, bevor er nach Geld fragt.
Ein typisches Beispiel von der Straße. Man denkt immer, nur die anderen denken so… Manchmal ertappe ich mich allerdings selbst dabei. Auch bin ich manchmal genervt von den Obdachlosen, die in Berlin ständig ihre Straßenzeitungen in den U-Bahnen und S-Bahnen verkaufen wollen. Aber mal ganz ehrlich, wer da draußen weiß eigentlich was dahinter steckt? Welche Geschichte jeder Einzelne hat?
Seit Juni 2013 gibt es endlich mal eine Initiative, die so Bürger wie mich und wahrscheinlich eine Million andere Menschen über das Thema Obdachlosigkeit aufklärt und das in der Hauptstadt Berlin, wahrscheinlich DER Brennpunkt der Obdachlosigkeit. In Deutschland waren 2012 ungefähr 284.000 Menschen wohnungslos. Querstadtein ist das erste Projekt des Stadtsichten Vereins und ebenfalls das erste Projekt seiner Art in der Hauptstadt. Hier zeigen Ex-Obdachlose interessierten Menschen, ob nun Touristen oder nicht, ihre Stadt, ihre ehemaligen Wohnungen und ehemaligen Unterschlupfe, die sie während ihrer Obdachlosenzeit nutzten.
Die Tour, die jeden zweiten Sonntag stattfindet, führt durch Schöneberg, dem südlichen Bezirk Berlins. Hier zeigt Carsten Voss, ein Ex-Obdachloser und auch Ex-Manager der Modebranche, seine ehemaligen Plätze. Wo kann man am besten schlafen? Wo bekommt man sein Essen her? Wo kann man duschen? Dinge, die man sich nicht vorstellen kann, wenn man täglich seine warme Wohnung abschließt und sich Abends nur aus dem Grund stresst, weil man sich im Supermarkt nicht entscheiden kann, was es Abends zu essen geben soll. Traurig? Oder? Dennoch sollte man ab und zu einmal um die Ecke schauen und dies kann man, wenn man an Querstadtein teilnimmt.
„Als Obdachloser hat man keine Privatsphäre mehr, man ist immer an öffentlichen Orten“, sagt Voss. Voss weiß, dass Obdachlosigkeit ein Thema ist, das viel zu selten angesprochen wird. Obdachlose gelten oft nur als die armen Menschen, die auch im Winter auf dem Boden sitzen und andere Menschen nerven, indem sie nach Geld fragen. Statt hinzuschauen, schauen Menschen weg, dabei ist dies genau das Falsche. Obdachlose bzw. “Menschen, die bereits auf der Straße leben, haben nur noch einen kleinen Bruchteil von Würde”, so Voss. “Schaut man weg und beachtet sie nicht, so ist auch dieser Bruchteil verloren.” Und warum man letztendlich obdachlos wird, das ist eine Frage, die man nicht in einem Satz beantworten kann. Es ist weder eine Frage der Schulbildung, noch des Alkoholismus. Es gibt Dinge, für die gibt es keine eindeutige Erklärung. Voss selbst litt an einem Burnout, das ihn zur Arbeits- und Wohnungslosigkeit führte. So schnell kann es gehen.
Die Tour endet am Banhof Zoo. Das ist nicht nur der finale Punkt von Querstadtein, sondern auch oft die letzte Adresse für viele Obdachlose in Berlin. Wir alle kennen das Buch “Die Kinder vom Bahnhof Zoo”. Fiktiv? Nein. Reine Wahrheit. Hier treffen Drogen auf Alkohol auf Prostitution und hemmungslose Armut. Wegschauen? Nein. Das wissen wir jetzt auch nach der Querstadtein Tour. Und das hat sich auch Franziska Dinter gedacht. Die 61-jährige schneidet Obdachlosen dreimal die Woche kostenlos die Haare und das direkt am Zoologischen Garten in der Bahnhofsmission oder in der Gedächtniskirche, am Brennpunkt der Obdachlosigkeit. Eine wahre Powerfrau.
„Nicht wegschauen, heißt hinschauen!“, sagt Voss. Und das finden wir auch. Einmal mehr die Augen öffnen und an der Querstadtein Tour teilnehmen, um die eigene Stadt mit ihren Problemen ein bisschen besser kennenzulernen und den Obdachlosen der Stadt zu helfen.
Ex-Obdachloser Voss erklärt die vielen Gründe der Obdachlosigkeit
7 comments
Aber totz des schönen Beitrags denke ich, dass es in Deutschland eigentlich keinen Grund gibt Obdachlos zu sein. Man muss doch nur zum Amt gehen und Formulare ausfüllen dann bekommt man hier eine Sozialwohnung und Hilfe. Schließlich haben wir hier im Gegenteil zu den meisten anderen Ländern ein soziales Auffangnetz für Menschen die, durch welche Umstände auch immer,von Armut betroffen sind.
Es gibt aber ein paar die daführ zu stolz sind.
Ich muss leider zugeben, dass ich auch nicht IMMER was gebe, obwohl ich IMMER auf 1-2 Euro verzichten könnte. Was ich in letzter Zeit mehrfach (in Mainz) beobachtet habe: Passanten geben zwar was, weisen den Obdachlosen aber umgehend daraufhin : “Nur für den Hund!” Das finde ich mal krass menschenverachtend.
Das fine ich, geht gar nicht. Wenn ich was gebe, dann ohne Bedienung. Manchmal kann man auch einfach nein Danke sagen. Das hilft auch schon, ihn nicht zu ignorieren.
Das krasseste, was ich mal beobachtet hatte: Eine Frau wird um etwas Geld für Essen gebeten. Sie geht in den nächsten Bäckerladen und kauft ihm einfach ein paar Brötchen mit der Bemerkung “Du versäufst das Geld doch sowieso”. Na und?