22:25 Uhr, Autobahn A70 Richtung Bamberg – nichts ist los. Es ist Silvester. Die sitzen jetzt alle vor ihrem fettigen Fondue-Topf oder sind schon beim Tiramisu oder dem Bleigießen angekommen. Bleigießen, das war das einzige auf was ich mich immer gefreut habe an Silvester. Die letzten Jahre habe ich jedoch jedes Mal Golfschläger oder Spermien gegossen und schon am 2. Januar die Bedeutung vergessen. Seit 10 Minuten fahre ich auf der Autobahn, keiner überholt mich, kein Licht kommt mir auf der Gegenfahrbahn entgegen. Hello Deutschland, Geisterstadt zwischen den Metropolen.
Eigentlich hatte ich dieses Jahr große Pläne. Ich habe mir ein Kleid gekauft mit Pailletten. Dazu wollte ich meine schwarzen Wildlederpumps anziehen, die Haare nach oben stecken und rote Lippen. Ja, rote Lippen wollte ich mir malen. Mache ich sonst nie, aber ich dachte mir, vielleicht ist das genau das richtige – den Silvesterabend mit etwas beginnen, dass man sonst nie macht um auch all die guten Vorsätze einzuhalten, was man sonst nie macht. Ich hatte schon den guten Rotkäppchen Sekt und eine Packung Wunderkerzen gekauft. Ich wollte Silvester mit Freunden in Berlin feiern, zuschauen wie alle Rehrücken essen, während ich Kloß mit Sauce auf dem Teller habe, um 12 Uhr auf der Dachterrasse, mit Blick über die ganze Stadt, das Feuerwerk anschauen, dann den Liebsten und irgendwelchen wildfremden, die dazugestoßen sind, in die Arme fallen und ihnen leicht bedüdelt und lallend ein frohes, neues Jahr wünschen. Ich, als bekennende Silvester-Hasserin wollte dem ganzen Scheiß noch eine Chance geben. Eine grippaler Infekt hat jedoch verhindert, dass ich die 450 Kilometer von Schweinfurt nach Berlin zurücklegen konnte. Das war es. Ein Zeichen, dass nicht jeder eine zweite Chance verdient hat. Ich sage Silvester für immer und ewig ab und starte stattdessen ein Langzeitprojekt – Silvester an den absurdesten Orten der Welt. Ich fange klein an. Dieses Jahr, der erste Teil, im Raststättenrestaurant „Pizza Bill“ in der Shell Tankstelle.
Noch 500 Meter dann kommt die Ausfahrt- Autohof Knetzgau. Ich sehe schon das Shell-Logo mit dem leuchtenden Besteck-Zeichen darunter. Ich fahre die Einfahrt hoch und stelle mein Auto auf dem zentralen Parkplatz ab. Schwere Entscheidung. Wo verbringe ich Silvester?
In der Admiralspielhalle, der Tanke oder der Pizzeria? Die Admiralsspielhalle hat leider zu. In der Pizzeria Bill sitzen noch die letzten Gäste an weißen Tischen mit Kerzenständern darauf. Angebot des Tages: Silvester-Büffet ab 19 Uhr. All you can eat Pizza für 24,50 Euro.
Wer macht das? Wer setzt sich an Silvester in ein Rasthofrestaurant und frisst Pizza? Ich muss mir bei der Überlegung eine Gegenfrage stellen. Wer stellt sich am Silvesterabend mit einem Stativ auf die Tankstelle und fotografiert sich vor der Zapfsäule? Ich sehe es ein. Ich habe gewonnen. Ich bin noch seltsamer.
Obwohl, ich wollte schon immer einmal Fotos nachts an der Tankstelle machen. Ich finde Tankstellen unglaublich fotogen, vor allem nachts. Da kommt eine Stimmung auf, als stünde ich vor einem Edward Hopper Bild. Es ist ruhig. Die Nacht dunkel melancholisch. Nur die Zapfsäule spendet warmes Licht.
Ab und zu fährt ein Auto zur Einfahrt hoch. Die wenigsten tanken. Die meisten stellen das Auto direkt vor die Schiebetür, es spring jemand vom Beifahrersitz in die Tanke und kommt wenige Minuten mit einigen Sachen in der Hand wieder raus. Ich mache gerade ein “Springbild” neben der Zapfsäule, als ein dickes Auto mit silber-grünen Streifen vorbei fährt – die Polizei.
Auch wenn ich das weißeste Schäfchen in der Herde bin, werde ich immer nervös, wenn Polizisten in der Nähe sind und ich frage mich: Habe ich etwas falsch gemacht? Neben der Zapfsäule in die Luft springen ist nicht falsch, nur ein bisschen bekloppt. Aber vielleicht hat sie jemand gerufen, weil ich so seltsam bin: „Da springt eine Irre zwischen den Zapfsäulen rum, bitte kommen sie schell vorbei.“ Was man sich alles so in ein paar Sekunden denken kann… Ich hätte es sehr amüsant gefunden, wenn ich wegen “Springen neben der Zapfsäule” an Silvester verhaftet worden wäre. Vielleicht nächstes Jahr. Die Polizisten haben nur eine Packung Kaugummi für den frischen Atem gekauft und sind dann wieder weggefahren.
Ich gehe durch die Schiebetür in die Tankstelle, bestell am Imbiss einen Silvaner Weißwein und eine Pizza Magharita. Dann setze ich mich in das Bistro neben dem Restaurant und lass erst mal alles wirken. 23 Uhr am 31.12.2013. Ich sitze am Autohof Knetzgau und höre Gelächter vom Pizzabüffet. Neben mir sitzt ein Bilderbuch- LKW-Fahrer: kleiner Mann, Schnurrbart, dicke schwarze Daunenjacke, Bluejeans und Wollmütze auf dem Kopf. Er starrt auf dem Flachbildschirm in der Ecke auf dem die Bundeskanzlerin ihre Neujahrsansprache wiederholt. Er starrt einfach nur auf den tonlosen Bildschirm, vor ihm ein leerer Teller. Irgendwie tut er mir leid. Was wird er um Mitternacht machen? Soll ich ihm ein frohes, neues Jahr wünschen? Vielleicht ein Gläschen Sekt mit ihm trinken und in seine Arme fallen?
Eine Frau Mitte 40 dreht meine Pizza im Ofen hinter der Theke. Es riecht verbrannt. Schon als ich die Tanke betreten habe, kam mir der stechende Geruch in die Nase gekrochen. Vom Zeitungsstand schaut Schumi zu mir herüber. Neben ihm steht – Der Kampf, auf meinem Tisch ein in Alufolie eingewickelter Weihnachtsstern und ein Schild. „Herzlich Willkommen“. Herzlich Willkommen auf dem Rasthof Knetzgau, dem wohl absurdesten Ort um den Silvesterabend zu verbringen.
Die letzten Restaurantgäste, eine Gruppe von Männer in muffigen Lederjacken und hysterisch lachender Frauen, von denen ich mehr Angst habe,als vor den Polizisten, verlässt das Restaurant. Es wird still. Nur ein paar Kellner wusseln noch rum und ab und zu kommen junge Typen in die Tankstelle, die Zigaretten kaufen.
Nur der Trucker sitz noch neben mir und schaut auf den Fernseher, an dem mittlerweile der Ton angestellt wurde. Ein zweiter, junger Truckerfahrer mit Vokuhila kommt dazu. Er setzt sich auf einen Barhocker am Rand des Bistros, hat etwas Frittiertes auf dem Teller und ein Pils im Glas daneben stehen, die er beide schnell verdrückt, aufsteht und im hinteren Eck der Tankstelle verschwindet.
Ich folge ihm. Es ist mittlerweile 23:24. Hinter Kanister voll Scheibenwischer-Flüssigkeit verstecken sich an die acht Spielautomaten. Der junge Truckerfahrer setzt sich an einen der blinkenden Kästen. Gegenüber sitzen zwei andere Typen, ein Mann um die 50 und ein junger Kerl um die 20, vor Automaten. Ich spiele eine Runde „Fantastic Fruits“ und investiere 4 Euro. Nach 20 Minuten ist das Geld weg.
„Hast du was gewonnen?“, fragt mich der eine Mann.
„Ne“.
„Eine hübsche Frau gewinnt doch immer“.
Aber anscheinend kein Geld.
Als ich die Spielecke verlasse, sehe ich, wie beim jungen Truckerfahrer Scheine und jede Menge Kleingeld aus dem Automaten schießen.
„Herzlichen Glückwunsch“, werfe ich ihm beim Vorbeigehen zu. Er lacht. Ein letztes Geschenk im Jahre 2013.
Noch 10 Minuten, dann ist Mitternacht. Der alte LKW-Fahrer im Bistro ist weg. Ich bin ein bisschen traurig und frage mich, wo er jetzt ist. Allein in seinem LKW? Weitergefahren? Eingeschlafen? Die Dame am Pizzastand unterhält sich mit der Klofrau. Der Tankwart steht draußen und raucht.
Dann geht alles ganz schnell. Aus dem Fernseher plärrt der Cowndown, die Klofrau plärrt mindestens genauso laut „Frohes Neues“, die Spieler starren auf die Automaten. Happy New Year.
Ich steige in meine Auto und fahre nach Hause. Im Rückspiegel sehe ich das Feuerwerk über Knetzgau glitzern. Das war also Silvester 2013, an einem absurden Ort, mit einem einsamen Truckerfahrer, der Klofrau, einer Bedienung, einem Tankwart und ein paar Spielsüchtigen. Unaufgeregt, aber irgendwie schön. Wie ein Abend, von dem man dachte man hat ihn nur geträumt. Mal schauen, wo es mich 2014 hintreibt.
Happy New Year
28 Kommentare
Herrlich unaufregend! Ich bin gespannt, wo es Dich nächstes Jahr hin verschlägt und lass Dich bloß nicht von Freunden zum Bleigießen verleiten!
Mein Silvester war ebenso wenig gedenkwürdig. In einem dunklen Hotelzimmer im wohl unspannendsten Ort in Südostasien: Pakse, Laos. Schiefe Klänge von Karaoke-Virtuosen schmettern über die Blechdächer, die Jugendlichen böllern lust- und lieblos, um 12 ist Schluss mit dem Spuk, nur noch ein paar Nachzügler, dann werden die Bordsteine hochgeklappt. Und ich verfolge die neuen Jahre in den restlichen Ländern der Welt über Twitter.
Haha sehr stark …! Es beruhigt mich etwas zu hören, dass es noch andere Menschen gibt die mit Silvester abgeschlossen haben… ! Die letzte 10 Jahre war es bei 1x gut, 5 mal ganz nett und 4x furchtbar….!
Egal an welchen schlimmen Ort es dich nächstes Jahr verschlägt…ich melde mich schon mal an als Begleitung ;)
Hallo Christine,
da bin ich aber froh, dass ich nicht der einzige bin, der Silvester nichts abgewinnen kann. Nur auf die Idee in einem Autohof zu “feiern” bin ich noch nicht gekommen, bei mir war es nur die Badewanne und ein Glas Wein. Sehr interessante Geschichte und vielleicht probiere ich es das nächstes mal auch aus. In diesem Sinne: “Frohes Neues!”
Merk ich mir fürs nächste Mal! Mit der Flow auf dem Sofa war aber eine gute Alternative Wünsch dir ein gesundes, erfolgreiches und interessantes neues Jahr;)
Toll geschrieben!
Dankeschön
Ich habe Silvester mal auf einer Frühchen Station verbracht. Das war mein eindrucksvollster Silvesterabend. Es war schön zu sehen wie liebevoll die Schwestern mit den winzigen Patienten waren.
hehe. tolle idee. und amüsant geschrieben!
das mit der polizei wäre wirklich ein absurder ort gewesen :D
Unsere Tochter wurde krank. Das hat erst Weihnachten komplett zerschossen, dann die Hochzeit meines Bruders und schließlich auch Silvester. Also blieben wir ganz einfach zuhause. Keine “Eigentlich-hab-ich-keinen-Bock-aber-irgendwas-muss-man-ja-machen”-Party mit irgendwelchen Leuten, die ebenfalls keinen Bock haben und nur dort sind, weil halt Silvester ist. Was soll ich sagen, es war einer der schönsten Silvesterabende, die ich jemals hatte :-)
Wie toll das ist die Idee des Jahres ! Ich finde auch Sylvester muss doch immer was ganz Besonderes sein. Etwas an das man sich immer erinnern kann. Gute Besserung Dir …
Christine, du bist herrlich verrückt ;-) – dit jefällt ma…
Feiner Bericht, hat mich an meine Silvesternaechte ( damals ) bei der Volksarmee erinnert. Silvester auf einem Baum am Fluss kommt mir da gerade in den Sinn.Ein Megajahr 14 wuensch ich dann noch!
Happy 2014! :)
Wir haben Silvester mal an ner Autobahnabfahrt in Mainz gefeiert. Wir wussten nicht wohin (mit uns), die Brücken wären überlaufen gewesen, auf ne große Party hatte keiner Lust, also standen wir mit 10 Mann unter einer Ampel und eine Sektflasche noch zwei Monate später auf ihr, bis es einen größeren Sturm gab oder der Straßenräumdienst doch mal ein Einsehen hatte. Schön war aber auch, dass doch noch etwas Verkehr war und Autofahrer die Scheibe runterkurbelten, uns ein frohes Neues wünschten und wir zurück. Ja doch. Hatte was.
Der Bericht liest sich doch ganz anders, wenn man sich alle vorstellen kann. Meine alte Heimat…an diesem Rastplatz habe ich auch viel Zeit verbracht, wenn auch noch nie Silvester :-)
Finde deine Seite super und freu mich immer darauf Bekanntes zu entdecken…so war auch ich letztes Jahr z.B. mit meiner Mama im Kronthaler und im Jahr davor im Kranzbach.
Alles Gute für das neue Jahr und mach so weiter :-)
Irgendwie bin ich dieses Jahr auch zum Entschluss gekommen, dass Silvester völlig überbewertet wird, wenn man vor Kälte bibbernd in Leipzig auf dem Augustus Platz steht und sich vor Angst vor den ganzen Feuerwerkssachen, fast einen Herzinfarkt bekommt. Ich will das nächste Silvester an einem warmen Ort verbringen, ganz entspannt.
Hallo Christine !!!
Wirklich ne tolle Geschichte :-)
Gerade solche Situationen sind meist die schönsten weil man nicht weiß wie sich alles entwickelt.
Normal kann jeder
Mit freundlichen Grüßen
Stefan
Danke :)
Das is ja mal total Genial !!!
Ich liebe solch herrliche Situationen
Da hätte ich sofort mitgemacht :-)
Vielleicht mache ich nächstes Jahr einen Silvester Flash-Mob ;) Alle die nix vor haben, lotse ich an einen Ort!
Du hast das sich küssende Pärchen auf dem Foto “Shell Tankstelle Knetzgau” gar nicht in deinem Bericht erwähnt. Wer war das?
Ich und ein unbekannten Mann, den ich zufällig an der Tanke beim Kippenholen getroffen habe ;)
Supercoole Idee! da wär ich sofort dabei :-D
Hallo,
wir sind auf deinen unglaublich witzigen und humorvoll geschriebenen Bericht gestoßen, als wir kürzlich auf der Suche nach einem ruhigen Ort zu Silvester für unseren Hund waren. Wir haben wirklich herzlich gelacht und du hast uns einfach inspiriert! Auch wenn dieses Erlebnis schon ein paar Jahre her ist, war dies bestimmt eins der Skurrilsten.
Danke dafür, Julia und Jürgen