Donnerstagabend. Hauptbahnhof. Ein Ort, an dem ich sehr viel Zeit verbringe. Ein Ort, an dem ich so viele unterschiedliche Gefühle habe. Vorfreude, Aufregung, Stress, Abschiedsschmerz… Heute gehe ich nirgends hin. Ich verlasse nicht oder werde auch nicht verlassen. Ich will einfach nur reden, über die Zeit.
Georg stört es nicht, dass wir uns an diesem doch schon etwas ungewöhnlichen Ort auf eine Pizza und ein Bier treffen. Wir haben uns schon mal gesehen. Auf irgendeiner Party in Berlin. Es ist ein Freund einer Bekannten, eines Freundes. Wie das eben so ist. Ein Mensch, den ich einmal kurz im Leben gesehen hat, aber keine Zeit für ihn hatte. Auf meinen Facebook Aufruf, wer denn gerne mit mir über die Zeit sprechen möchte, hat er sich als erster gemeldet. Ich war überrascht. Positiv. „Ich mag diesen Ort an dem so viel Trubel ist. Alle laufen rum, sind in Bewegung, reisen, brechen auf…“, sagt er. Ich nicke zustimmend. Ich mag diesen Ort auch. Ich könnte stundenlang hier sitzen und mich fragen, wo die Leute hin gehen und wo sie herkommen. Wie sie ihre Zeit verbringen. Mit was? Und mit wem?
Georg weiß, über was wir heute reden. Über die Zeit. Sie ist eigentlich immer gleich lang, doch in manchen Momenten scheinen die Uhren stehen zu bleiben und in manchen davon zu rasen. Wir jammern alle, dass wir zu wenig von ihr haben, aber doch hat jeder gleich viel, an einem Tag.
„Was würdest du denn machen, wenn man dir eine Stunde mehr Zeit schenk? Wenn ein Tag 25, statt 24 Stunden hätte?“, frage ich ihn, nachdem wir Pizza bestellt haben.
„Eine Stunde?“ Er überlegt und schaut aus dem Fenster. „Gute Frage. Die sollte man sich wirklich öfters stellen.“ Was würdest du denn morgens machen, wenn du eine Stunde mehr hättest“, hake ich nochmal nach. So schnell kommt er mir nicht davon.
„Ich glaube, ich würde morgens aufstehen, mich gemütlich an den Kaffeetisch setzen und mich entspannen. Das habe ich nie, dieses Gefühl. Aber ich bewundere es immer bei anderen. Das sieht so gemütlich aus. Warum habe ich das eigentlich nicht?“
Ich glaube ich kann ihm die Antwort geben. Weil er sich die Zeit nicht nimmt. Weil er lieber 20 Mal auf den Schlummer Modus klickt um noch 5 Minuten, nur noch 5 Minuten liegen zu bleiben.
„Heute habe ich lustigerweise damit angefangen morgens zum Sport zu gehen, damit ich abends mehr Zeit habe.“ erzählt er mir stolz. Warum nutzt er die Zeit nicht um sich dieses schöne Gefühl von Gelassenheit und Entspannung zu geben? Warum macht er lieber Sport, als in Ruhe einen Kaffee zu trinken. Weil wenn man Sport macht, dann hat man was geschafft.
Das ist unsere Gesellschaft. Man muss was machen. Sonst sitzt man nur dumm rum. Kaffee trinken und rumsitzen wird als vergeudete Zeit angesehen. Man könnte doch so viel schaffen in der Zeit. Beim Kaffee trinken, da schafft man sich höchsten Seelenfrieden und wer braucht den schon…
Ach Mist. Von den eigenen Gedanken auf frischer Tat ertappt. Genauso geht es mir doch auch. Ich bin ein absolutes Arbeitstier, immer in Bewegung, immer am machen und tun. Das Wort Entspannung kenne ich nur wenn ich wegfahre. Mit dem Zug in eine andere Stadt oder mit dem Flugzeug in ein anderes Land. Dann kann ich plötzlich stundenlang dasitzen und nichts tun.
„Irgendwie hetzt man durchs Leben, oder? Ich bin auf jeden Fall ein sehr zeitgetriebener Mensch.“ wirft Georg ein und holt mich aus den Gedanken. „Zeit ist der größte Motivator. Ich gehe morgens zum Sport um abends mehr Zeit zu haben.“ Er nippt von seinem Bier. Eigentlich müsste ich gut finden, was er sagt. Wäre er heute Morgen nicht zum Sport gegangen, hätte er sich heute Abend nicht mit mir treffen können.
„Alles dreht sich nur um die Zeit, denn man hat sie nicht unendlich. Ich bin zum Beispiel ein unfassbar pünktlicher Mensch.“
„Das gibt es selten in Berlin.“, erwidere ich.
„Ich kann nicht zu spät kommen. Das ist in mir drin. Ich plane auch immer viel zu viel Zeit für Dinge ein.“
Das geht mir genauso. Wichtige Texte kann ich nicht anfangen, weil ich denke, ich brauche mindesten drei Stunden Zeit am Stück. Doch dann bin ich meistens nach 45 Minuten fertig. Und auch das zu spät kommen macht mich fertig. Schon bei nur wenigen Minuten geht mein Puls hoch. Woher kommt das?
Habe ich Angst was zu verpassen?
Zeit ist wertvoll. Aber wie wertvoll? Wie kann man Zeit aufwiegen? In Euro? Geht das?
Wenn mir jemand sagt ich gebe dir Betrag X, dafür stirbst du aber ein Jahr früher, wie viel würde ich nehmen? Irre Frage, ich weiß.
Ich muss an mein Hörbuch denken. „Arbeit und Struktur“ von Wolfgang Herrendorf, ein Blog als Buchformat. Der Autor von dem erfolgreichen Jugendroman „tschick“ hat über seine Diagnose Gehirntumor geschrieben. Wie am Anfang aus drei Monaten, die sie ihm noch gegeben haben, 3 Jahre wurden. Wie er sich am Leben gehalten hat, mit Arbeit und Struktur, ein Unglaubliches Buch.
„Das kann ich gut verstehen. Wenn man Arbeit und eine Struktur hat, weiß man, für was man aufsteht.“ erwähnt Georg. „Eine Aufgabe haben, gebraucht werden, dass macht uns lebendig. Das bemerke ich an mir selber, den Tatendrang den ich morgens habe, wenn ich aufstehe und weiß, was ich erledigen muss.“
Struktur als Sinn.
Zeit als Motivation.
Wie oft wünsche ich mir mal einen Tag nichts machen zu müssen und dann habe ich an solchen Tagen meist schon am Mittag schlechte Laune, weil mir alles sinnlos vorkommt. Man muss das Nichtstun immer wieder von neuem lernen. Es ist wie mit dem Fahrrad fahren. Die ersten Meter sind etwas schwierig, doch dann läuft es. Mit dem Nichtstun ist es auch erst etwas schwierig, doch mit der Zeit wird man immer besser. Ich muss an Chile denken. Ich war in einem wunderschönen Hotel in Patagonien, das ein wunderschöne Philosophie hat. Sie möchten, dass ihre Gäste wieder Kinder sind. Dass sie sich tagsüber Zeit nehmen zum Entdecken. Dass sie ihren Gefühlen folgen. Essen, wenn sie Hunger haben, schlafen, wenn sie müde sind, genießen, jeden Moment ohne Ablenkung. Es war ein wunderbares Hotel.
Ich geh ein zweites Bier holen. Als ich wieder komme, hängt Georg an seinem Smartphone, legt es aber sofort wieder weg, als ich den Tisch erreicht habe. Da kommt mir ein Satz in den Kopf, den ich neulich irgendwo auf Twitter oder Facebook gelesen habe: „Das schönste Kompliment, dass dir jemand machen kann, ist es sein Handy in der Tasche zu lassen.“
Traurig, aber wahr. Ich nehme es Georg jedoch nicht übel, dass er es während meiner Abwesenheit rausgeholt hat. Ich hätte es auch gemacht. Einfach, um mal kurz schauen, was so abgeht.
„Ich habe neulich einen wunderschönen Satz gesagt bekommen“, steige ich wieder ins Gespräch ein. „Ich habe mich mit einer Freundin getroffen, unter der Woche am Nachmittag für drei Stunden. Zum Abschied hat sie gesagt: Danke, dass du dir so lange Zeit genommen hast. Ich war richtig gerührt.“
Georg nickt begeistert. „Das ist ja auch ein schöner Satz. Das würde mir auch sehr viel bedeuten, weil jemand anderes deine Zeit, das wertvollste, was du besitzt, respektiert.
„Ja stimmt.“
Witzig, da sitzt ein eigentlich völlig fremder Mensch mir gegenüber und doch haben wir jetzt in der kurzen Zeit, die wir miteinander verbracht haben, schon so viele Gemeinsamkeiten entdeckt. Wie viel Zeit sollte man einem Menschen schenken, bis man sich ein Urteil von ihm macht? Im unterbewussten passiert das schon nach wenigen Minuten. Doch wie lange braucht man wirklich?
„Um nochmal auf deine Anfangsfrage zurück zu kommen“, sagt Georg, „ich glaube, ich brauche gar keine Stunde mehr am Tag. Ich kann sie mir einfach nehmen, für mich. Für Dinge, die mir wichtig sind.“ Recht hat er.
Ich habe ein Video gedreht zu dem Thema: Was wäre wenn? Was wäre wenn ich morgens, mittags und abends eine Stunde mehr Zeit hätte?
Darauf habe ich ganz viele, nette Antworten bekommen, was meine Leser und Follower machen würden, wenn sie eine Stunde mehr Zeit hätten: Ausschlafen, selbst einen Blog schreiben, mehr Fotos schießen, sich eine Massage gönnen…
Doch im Großen und Ganzen waren wir uns einig. Wir brauchen eigentlich gar nicht mehr Zeit, sondern nur mehr Achtsamkeit. Meine Followerin „Glücksdetektiv“ hat das super ausgedrückt: „Deswegen sollten wir alle öfter Mal innehalten, uns auf den Atem konzentrieren und uns bewusst machen, dass wir JETZT GERADE lebendig sind und das hier und jetzt genau unser Leben stattfindet. Verpasst es nicht!”
Wir denken immer, dass wir keine Zeit haben. Termindruck, ständige Erreichbarkeit, und ständig jemand, der was von uns will. Deshalb sparen wir Zeit. Wir essen im Gehen, liken und sharen unterwegs und schreiben Emails auf der Rolltreppe. Unterwegs wird uns noch mehr Zeit gestohlen: An Ampeln, im Stau, bei Gepäckkontrollen, beim Warten auf den Flieger. Und wenn man Bahn fährt? Auf die Bahn wartet man auch. Aber sobald man im Zug sitzt, kann man die Zeit nutzen. Denn in der Bahn gehört die Zeit nur einem selbst. Gerade auf längeren Reisen gibt es zahlreiche Möglichkeiten, wie man sich sinnvoll beschäftigen kann. Ob komplizierte Origami, bunte Skizzenbücher oder Spiele: Zeigt uns eure Vorschläge für tolle Reisebeschäftigungen. Eure Ideen möchten wir gerne als Foto oder Video auf bahn.de/deinezeit veröffentlichen, um allen Lesern noch mehr Inspiration für ihre Reise zu bieten. Mit etwas Glück gewinnt ihr eine BahnCard 100 oder eine Freifahrt. Hier geht es direkt zum Foto / Video Upload.
Viel Glück und viel Spaß beim Stöbern!
Dieser Post ist in Kooperation mit Deutsche Bahn entstanden. Vielen Dank!
12 Kommentare
Ein schöner Beitrag, der sehr zum Nachdenken anregt. Mehr Zeit…letztendlich haben wir genug. Selbst mit 5 Stunden mehr Zeit am Tag würden wir immer noch behaupten wir hätten zu wenig davon…
Ein wirklich wundervoller Post.
Hat mir sehr sehr gefallen!
Dankeschön dafür.
Greetings & Love & a wonderful easter
Ines
Bitteschön :)
Ein richtig toller Post <3
Dankeschön :)
Eigentlich hat “Glücksdetektiv” ja recht…
Aber mir gehts auch immer so, dass ich gerne ein paar Stunden mehr Zeit hätte am Tag. 24 Stunden sind manchmal echt zu wenig.
Ich wünsch dir schonmal schöne Osterfeiertage. :)
Hallo Christine!
Ich finde diesen Post richtig gut: Einmal das Thema natürlich, aber auch der Stil, also dass du dich mit jemandem zu einem Interview dazu getroffen hast – keinem Experten, sondern einem wie du und ich.
Jeder will mehr Zeit haben, aber ich glaube, man muss die vorhandene Zeit einfach so nutzen, dass sie einen zufrieden macht. Also der Zeit Sinn geben!
Liebe Grüße
Franziska
Ein wundervoller Beitrag! Und das Video finde ich echt stark. Sehr schöner Denkanstoß, danke dafür :)
Hugs,
Linda
Dankeschön :)
Hallo Christine,
ganz tolle und sehr weise Worte!
Zunächst habe ich mich ertappt gefühlt. Denn ehrlich gesagt, keine Ahnung was ich mit einer Stunde mehr machen würde.
Ich stimme dem Glücksdetektiv zu! Es macht höchstwahrscheinlich keinen Unterschied, ob der Tag 24 oder 25 Stunden hat.
Wenn ab sofort jeder Tag eine Stunde mehr hätte, würde man sich schnell dran gewöhnen. Außerdem stellt sich für mich die Frage, ob man dann schneller oder langsamer altern würde. Schließlich braucht man dann für ein Lebensjahr 365 Stunden mehr.
Sollte der 25 Stunden Tag eine Ausnahme sein, dann hoffe ich mal das wir gutes Wetter haben, dann kann ich nämlich eine Grillparty schmeißen.
Aber was ich für mich aus dem Artikel mitnehme ist, dass es darum geht die Zeit, die wir haben mehr wertzuschätzen. Gerade weil es eine begrenzte Ressource ist.
Viele Grüße
Kim
P.S. Ich häng auch voll gerne auf Bahnhöfen ab. Habe immer gedacht, dass wäre so eine komische Neigung. Schön, dass es auch anderen so geht.
Haha, danke für deine lieben Worte. Ich würde zur Grillparty kommen ;)
Hallo liebe Christine,
WOW! Was für ein schönes & inspirierendes Video, was für schöne Aufnahmen, was für ein schöner Text! Ich bin begeistert! Und dabei hast du so sehr Recht.. Zeit ist etwas wahnsinniges kostbares. Man muss sie nur richtig nutzen. Ich hätte manchmal einfach gerne mehr Zeit für mich. Ich versuche immer alles so gut zu vereinen: für meinen Freund, meine Freunde, meine Familie, meinen Job, … usw. da zu sein, aber manchmal vergesse ich eines dabei leider: MICH SELBST. Einfach für ein paar Stunden einmal NICHTS machen zu müssen, an nichts denken zu müssen.. dafür hätte ich gerne mal wieder MEHR ZEIT.
Liebe Grüße <3