Ich wüsste gar nicht, wie und wo ich anfangen soll, doch Regina schält routiniert innerhalb weniger Minuten eine Papaya für mich. „Ich hatte heute morgen schon zwei davon“, sie grinst und schneidet nun die Frucht in schmale Streifen. „Gerade als ich die Dritte anbrechen wollte, hat mich mein Mann Dorin daran erinnert, dass ich eine für dich aufheben wollte.“
Es ist Sonntag in Dominica. Die Straßen sind leer, die Geschäfte zu, nur vereinzelt haben ein paar Souvenir-Stände mit geflochtenen Körben und geschnitzten Masken auf. Ich sitze in Reginas Küche, eine kleine Holzhütte mit Wellblechdach und Küchenutensilien, die eher an eine antike Küche im Freilichtmuseum erinnert, als an ein Wohnhaus im 21.Jahrhundert. Vor mir steht eine Tasse Milch und nun auch eine frisch geschälte Papaya. „Dorin, hol mal bitte die Kräutersäfte“, ruft Regina aus dem Küchenfenster ihrem Mann zu.
Nach kurzer Zeit kommt er mit mehreren Kisten zurück, in denen kleine Flaschen stehen auf denen bunte Etiketten geklebt sind. „Energy Tonic“ oder „Gali Joy Sirup“ steht auf den Etiketten. „Mach mal die Handfläche auf“, fordert mich Regina auf und füllt mir den zähflüssigen Saft in die Hand, „das ist gegen Sodbrennen.“ Sie rückt ihre Brille zurecht und liest langsam die Zutaten vor. All die Kräuter in den Flaschen kommen aus ihrem Garten.
Regina ist 54 Jahre alt und lebt auf Dominica. Sie gehört zu den Kalinago, den karibischen Indianern, die auf Dominica ein Reservat haben. Hier besitzen sie Land, auf dem sie einen ein Haus bauen können ohne es kaufen zu müssen und wie Regina, einen Garten.
Die Vorfahren der Kalinago kamen vor Jahrhunderten vom Festland nach Dominica. Sie blieben bis heute und sind die letzten karibischen Indianer. Rund 3.500 von ihnen leben im Nordosten Dominicas, dem Kalinago Territory. Nach westlicher Wohlstandsbetrachtung in oft einfachen bis ärmlichen Verhältnissen.
Seit zwei Jahren bieten zehn Familien ihre Häuser für Touristen an, Besucher, die sich für die Geschichte interessieren, Wanderer, die auf den Weg sind und einfach alle, die das Leben auf Dominica leben und nicht nur sehen wollen. Auf jeder Reise versuche ich etwas besonders zu unternehmen, Dinge zu sehen, die noch nicht jeder gesehen hat oder einfach Sachen erleben, die mich bereichern. Mit dem Homestay bei den Kalinago, also Regina, bin ich einer von nur 60 Menschen, die in der letzten zwei Jahren hier übernachtet haben.
Ich will wissen, wie man lebt, als einer der letzten karibischen Indianer. Lederleibchen und Federn im Jahr, so wie ich mir das ein bisschen vorgestellt habe, trägt hier keiner. Ich schäme mich ein bisschen für meine Vorstellung. Fast jedes Haus hat Strom. Die Dusche ist ein Schlauch im Hinterhof, die Toilette ein Plumpsklo. Regina hat sogar ein Handy. Nur Internet gibt es nicht. Tut mir gut. „Bist du hautsächlich Hausfrau?“, frag ich Regina, um mehr über sie und ihren Alltag zu erfahren.
„Nein“, antwortet sie sehr schnell und energisch. „Ich habe keinen festen Job, aber ich habe einen Garten und betreibe dort organic farming. Ich bin selbstständig.“ So wie sie das Wort „selbstständig“ betont, merke ich, es bedeutet ihr viel und sie ist sehr stolz darauf. Sie erzählt mir, dass sie jeden Tag mit ihrem Mann in den Garten geht. Meistens von 8 bis 15 Uhr. Am Anfang hat sie Bananen verkauft, bis das Auto, das die Bananen abgeholt hat, nicht mehr bis zu ihrer Straße hochfahren wollte und sie keine Bananen mehr verkaufen konnte. Regina hat fünf Töchter im Alter von 27 bis 37 und 20 Enkelkinder. Eine Tochter arbeitet auf einem Kreuzfahrtschiff, die Andere ist nach Frankreich gezogen. Besuchen konnte sie ihre Tochter noch nie. Es ist zu umständlich und zu teuer. Sie bräuchte sämtliche Kopien und eine schriftliche Einladung von ihrer Tochter, mit der sie auf das Amt in Dominica gehen müsste, das eine Autostunde entfernt liegt. Wenn sie Glück hat, würde sie auf die Nachbarinsel St. Lucia eingeladen werden und ein Visum bekommen. Doch die Fahrt dort hin und das Visum kann sie sich nicht leisten. Trotzdem hat sie schon mehr von der Welt gesehen, als der Durchschnittsbewohner auf Dominica. Sie war sechs Wochen in Kanada auf einer Farm, 40 Tage in China, zwei Wochen in England und Santo Domingo. Dominica gehört zu den vier der Windward Inseln und Regina gehört zu den Vertreterin des organic farmings auf Dominica.
Nach der warmen Milch und der Papaya, laufen wir den Berg hoch, vorbei an Zitronengras und im Gespräch versunken über Kräuter gegen Menstruationsbeschwerden. Ich will ihren Garten sehen. „Wo hast du denn deinen Mann kennengelernt?“, frage ich sie. Ich mag es schnell persönliche Fragen stellen zu können. Mich interessieren solche zwischenmenschlichen Sachen und Regina erzählt gerne. „Chris, du musst wissen, ich habe einen Mann, aber ich bin selbstständig. Ich bin jetzt 21 Jahre mit Dorin zusammen, aber trotzdem nicht abhängig. Ich kann mich alleine versorgen.“ Ich glaube ihr, nickte mit dem Kopf, rechne Ehe und Alter des ersten Kindes zusammen und stelle fest, dass das nicht so ganz hinhaut. Regina war schon mal verheiratet. Sie war damals 17 Jahre alt. Drei Kinder hat sie mit ihrem ersten Mann, der irgendwann nach Guadeloupe abgehauen ist, sich in eine andere verliebt hat und sie mit drei Kindern alleine gelassen hat. „Da stand ich dann da, mit drei Kindern, ohne finanzielle Unterstützung und musste ganz alleine zurechtkommen.“ Ein soziales Auffangbecken gibt es hier nicht. Sie schimpft auf ihre Eltern, und fragt sich, wie sie das damals zulassen konnten. Es war zu einer Zeit, in der die Eltern noch ihre Kinder „unter die Haube“ bringen mussten. Ich mag es wenn sie mich Chris nennt und noch viel mehr mag ich ihre offene Art und ihren offenen Blick in die Welt.
Wir erreichen ihren Garten. Ein Hektar Land voll von Palmen und exotischen Bäumen. Im Sommer wachsen hier Avocados an den Bäumen, jetzt hängen die Palmen voll von Bananen, Süßkartoffeln kommen aus dem Boden und morgen müssen die Kakao-Früchte geerntet werden. Die getrockneten und gerösteten Samen sind die wichtigste Zutat für den traditionellen Kakao-Tee. Stolz bleiben wir an einem terrassenförmigen Beet stehen. „Hier ziehe ich gerade meine ersten irischen Kartoffeln“, erzählt Regina stolz. „Ich habe einige Pflanzen geschickt bekommen. Sie haben gesagt ich soll schauen, ob sie hier was werden.“ Die fruchtbare Erde für die irischen Kartoffeln hat sie aus kompostierten Kokosnüssen gemacht. Mitten im Garten bleiben wir stehen. An der Stelle, auf der heute Gras und ein paar Kräuter wachsen, stand einmal ihr Geburtshaus. Als ihr Vater starb, ist die Mutter mit ihr an die Hauptstraße gezogen. Regina war damals die Beste in der Schule. 14 Jahre war sie alt und so talentiert. Nach dem Tod des Vaters hatte die Mutter kein Geld, um sie auf eine weiterführende Schule zu schicken, also fing Regina an zu arbeiten, im Garten. Sie war fleißig und ehrgeizig. Sie belegte viele Kurse und hat sich weiter gebildet. Einer ihrer Kurse war „public speaking“. „Ich war immer so nervös, doch dank dem Kurs, kann ich jetzt an Wahlen meine Partei vertreten.“ Sie gehört zu der Labour Party.
Wir kommen an einen Baum vorbei, dessen Geruch sich in den letzten Tagen in meine Nase eingebrannt hat und den ich immer wieder erkenne – Bay Tree. Regina reißt ein Blatt ab, zerdrückt es in ihrer Hand und hält es mir unter die Nase. Oh, wie ich diesen Duft liebe. „Ich würde wahnsinnig gerne einen solchen Baum zu Hause haben“, erzähle ich ihr. „Dann nimm doch einen mit“. Regina bückt sich und reißt einen kleinen Baum aus der Erde. „Ich weiß aber nicht, ob ich das darf. Ich meine wegen dem Zoll und so.“ „Du musst es nur klug anstellen.“ Sie lacht und ihre Augen funkeln. Jeder Mensch trägt seine Geschichten und Erlebnisse mit sich. Ich frage mich, welche Frau Regina geworden wäre, wenn sie das alles nicht erlebt hätte. Ich wünsche ihr keine ihrer Schicksalsschläge, aber sie haben sie zu dieser unglaublichen Frau gemacht, die gerade vor mir steht und die ich sehr bewundere, für ihre Unabhängigkeit und Stärke. Sie hat einen Satz in unserem Gespräch gesagt, an den ich oft denken muss und der sehr wahr ist: „Alles was ich gebraucht habe, habe ich gelernt – lesen und schreiben. Alles andere habe ich meinem Willen zu verdanken.“
Ich denke gerne an diese besondere Sprechstunde und der Zeit mit ihr zurück und werde mindestens einmal am Tag an sie erinnert. Immer wenn ich morgens am Kaffeetisch sitze und das Lorbeerbäumchen vor mir stehen sehe, dass ich aus Dominica geschmuggelt habe.
Mein Homestay bei den Kalinago: Ich, Regina und Dorin
Souvenir-Stände am Straßenrand
Reginas Wanddeko
Spüle with a view
Abendessen bei den Kalinago
Aussicht aufs Meer von der Küche aus
Kakao Pulver
Geradeaus ist Reginas Küche und rechts ihr Wohnhaus
Dorin zeigt mir sein Revier – das Meer
Reginas Küche
Süßkartoffeln aus dem Garten
Die Wundermittel
Vielen Dank an Discover Dominica für die Unterstützung
6 Kommentare
Am liebsten möchte ich jetzt auch zu Regina! Und ich will einen Ableger von Deinem geschmuggelten Bäumchen! Homestays sind immer etwas besonderes, haben wir in Vietnam auch ein paar Mal gemacht und es war jedes Mal ein tolles Erlebnis.
Also er lebt noch! Ich bring ihn demnächst zu Mutti und dann wird ein Baum draus :)
wow, toller Bericht und eine tolle Frau. Danke hierfür!