Das Leben erzählt immerfort. Das ständige wechselnde Ensemble auf seiner Bühne lässt es stillschweigend spielen. Tagsüber oft flirrend und bunt, nachts dann kleine Seltsamkeiten und traurige Sonaten. Es ist ein souveräner Geschichtenerzähler, das Leben. Allzeit bereit und greifbar mit offenen Ohren.
Ich nähere mich ihr im Café. Dies ist eine wunderbare Tageszeit für eine Sprechstunde. Es ist früh am morgen, die Luft ist noch sauber und kühl, die Sonne scheint am blauen Himmel, verschwindet nur ganz kurz hinter der Kugel des Fernsehturms, als ich über den Alexanderplatz laufe, Richtung Café Spreegold. Ihre Haare leuchten in der Sonne, die durch die großen Glasfenster scheint. Sie lacht, hat wache Augen, einen interessierten Geist und zwei Pfoten auf das Dekolletee tätowiert. Wir bestellen, beschnuppern uns, tauschen die ersten Sätze aus, meist Small Talk, den ich ganz ungeduldig hinter mich bringen möchte, um endlich zur Sache zu kommen. Anne ist aus Kiel zu Besuch in Berlin und möchte an meiner Sprechstunde teilnehmen.
„Ich habe das Buch Sternendiebe: Mein Leben in Afrika gelesen und dann war klar, ich will nach Afrika. Das ist mein Traum.“ Sie legt ihre Hände um die weiße Porzellantasse auf der eine Sahnewolke schwebt, die sich langsam absenkt und im heißen Kakaogetränk verschwindet. Ich möchte heute über Träume reden. Ja, über Träume. Es ist eine Sprechstunde über die Entstehung und Erfüllung von Träumen. Jeder hat sie. Still und heimlich kommen sie in unser Leben, fressen sich in die Gedanken, werden von uns in unsichtbare Winkel gedrängt oder ganz bewusst in den Mittelpunkt gestellt. Manchmal kommen sie durch eine Begegnung mit einem Menschen, manchmal ist es auch ein Film, der uns einen, wie würde meine Oma nun sagen „Floh in den Kopf setzt“. Bei Anne war es ein Buch. Ich bin immer wieder begeistert, wie sehr uns Bücher beeinflussen. Nicht nur beim Träumen. Dank eines Buches weiß ich, wie einmal mein erstes Kind heißen wird, falls ich jemals eins habe und es ein Mädchen wird. Der zukünftige Vater wird dabei kein Mitspracherecht haben. Da bin ich egoistisch. Aber zurück zum Thema. Anne und ich sind uns einig. Träume hat jeder, doch es gibt zwei Wege, wie man mit ihnen umgeht. Die Träumer träumen von ihren Träumen. Sie können sich vorstellen, wie alles sein könnte, wenn sie Träume erreichen würden, doch kommen aus dem Konjunktiv ihres Lebens nicht raus. Sie streben nicht danach Träume zu erfüllen. Es könnte aufregend werden und unangenehm. Vielleicht sogar anstrengend. Lieber sitzen bleiben und träumen, das ist einfacher und bequemer und der Satz „Ach das schaffe ich sowieso nie“ bleibt immer eine gute Ausrede Sachen nicht anzupacken. Neben den Träumern gibt es die Macher, die nicht Träume träumen sondern Träume leben möchten. Anne gehört zur zweiten Gattung, die Macher. Sie will nach Afrika, das war klar. Das Buch war der Auslöser und dann legte sie los, googelte die Autorin Nicole Mtawa, sieht, dass sie einen Verein für pflegebedürftige Kinder in Not gegründet hat und schreibt sie einfach auf Facebook an. Danach hat Anne organisiert, dass sie für eine Lesung nach Kiel kommt. Sie treffen sich persönlich, verstehen sich genauso gut, wie online, reden und Anne erfährt, dass der Verein schon ein Kinderheim in Indien errichtet hat. „Es war leider nicht Afrika, aber irgendwie wollte ich trotzdem unbedingt da hin“, strahlt Anne und ich weiß schon, dass sie auch wirklich da war und es so beeindruckend war, dass sie immer noch strahlt, wenn sie davon erzählt. „Es war der Wahnsinn. Ich kam an und überall fuhren Rikschas mit lauter indischer Musik aus dem Radio“, erzählt Anne und ich fühle sehr mit ihr, denn die ersten 5 Minuten in einem Land, die brennen sich ins Gedächtnis ein. Doch den schönsten Augenblick hatte sie, als ein kleiner Junge ihr die Hand gegeben hat. Einfach so, mitten auf der Straße, ohne zu betteln oder irgendeine Erwartung zu haben. „Das war so ein Glücksmoment“. Sie hat all diese wunderbaren Erlebnisse in ihrem Kopf. Sie hat sich einen Traum erfüllt von dem sie gar nicht wusste, dass es einer ist – Indien besuchen. Letzten November war es dann soweit. Afrika stand auf der Reiseroute. Zwei Wochen Tansania. Ihre Augen verlieren ein kleines bisschen an Glanz, ihr Kopf senkt sich, als sie davon erzählt. „Ich dachte, wenn ich in Afrika bin, werde ich nie wieder weg wollen. Aber das war nicht so. Afrika ist nicht mein Traum. Es war Indien.“ Wie sie das sagt, klingt es reumütig und entschuldigend, als ob man sich nicht irren dürfte. Doch das tut man, bei Träumen am meisten. Da ist es ein bisschen, wie mit dem Lieblingsgericht. Man ist so darauf fixiert, weil man denkt, es gibt nichts besseres, dass man alles andere vergisst und mit Scheuklappen durch den Supermarkt läuft. Dadurch verpasst man so viele andere Sachen. Ich gebe zu, ich mag das Wort Traum eigentlich gar nicht. Es klingt so fern und unerreichbar, wie eine Sache, die wir nur in Trance erleben und uns am nächsten Tag nur schleierhaft daran erinnern, wenn ich irgendwas zu sagen hätte, dann würde ich gerne das Wort Traum durch Ziel ersetzen und eine Riesendemo organisieren zur Abschaffung der Träume und Realisation der Ziele. Möglichst viele Ziele erreichen, sollte in der Lebensagenda stehen, denn nur durch Erfüllung von Träumen, sprich Zielen, weiß man, was man möchte, wer man ist und vernichtet die Illusion, die sich im Kopf festsetzt. Mit 20 träumte ich von einer Karriere als Modedesignerin, mit 23 wollte ich zur Vogue, mit 25 beim ZEITmagazin arbeiten. Wenn ich mir all diese Träume nicht erfüllt und reflektiert hätte, würde ich immer noch davon träumen und gar nicht wissen, was ich wirklich will und nicht anfangen das zu leben, was ich will. Die Sahne ist nun vollständig verschwunden. Noch vor wenigen Minuten war sie ein imposantes Gebilde auf der Tasse, nun ist sie nur noch ein weißer Brei. „Was möchtest du dir als nächstes erfüllen“, frage ich Anne. Sie muss nicht lange überlegen. Eigentlich denkt sie keine Sekunde nach, schon schießt die Antwort aus ihr heraus. „Ein Kind“. Den Traummann, den hat sie schon gefunden. Es war ein Mann, den sie am Anfang keines Blickes gewürdigt hat. Außerdem dachte sie zu diesem Zeitpunkt schon ihren Traummann gefunden zu haben. Es war ein bisschen, wie mit Indien und Afrika. Es ist still, wir denken beide kurz nach und beenden die Schweigepause mit einem zufriedenen Lächeln. Die Zeit, die man hat um seine Träume zu leben oder wie ich gerne sagen möchte, seine Ziele zu erreichen, ist endlich. Steht auf, seid Macher, ihr schafft das, denn wo ein Wille ist, ist auch ein Weg und manchmal zeigt ein Schritt schon, wo die Reise hingeht. Das Einzige, was ich leider nur machen kann, ist euch immer wieder animieren und euch jeden Tag zeigen, dass es möglich ist. Das Leben erzählt immerfort. Es braucht jedoch Mutige, die sich auf die Bühne trauen, mit ihren Träumen und Zielen und ihrer Geschichte.
1 Kommentar
Du und Anne, ihr seid beide beneidenswert! Ich verfolge mein aktuelles Vorhaben nun schon seit etwa 1,5 Jahren aber habe noch keine besonders großen Fortschritte gemacht. Wahrscheinlich hast du recht, man sollte es einfach anpacken anstatt immer nur zu Träumen – aber das würde wohl das Ende meines derzeitigen Arbeitsverhältnisses bedeuten und als Berufseinsteiger mit gerade mal ein paar Jahren Erfahrung sollte man sich das wirklich gut überlegen… Ich habe meinen Traum erstmal aufgeschoben auf einen späteren Zeitpunkt – vielleicht war das ein Fehler und ich werde mir meinen eigenen Traum niemals erfüllen.
Haha ich muss die ganze Zeit innerlich grinsen wegen eurer Wortwahl, dem „Träumen“. In meinen wirklichen (Schlaf-)Träumen passieren nämlich ziemlich unrealistische und schräge Dinge, das allerwenigste davon will ich mal in der Wirklichkeit erleben! :D
Wie soll denn deine erste Tochter eigentlich heißen und welches fiktive Romanfigur hat dich so beeidruckt das du dich davon inspirieren lassen hast? Nun bin ich neugierig geworden^^