“Mein Name ist Anja Rillcke. Und wenn Berlin ruft, komme ich im Sauseschritt! Seit einem Jahr lebe und arbeite ich im charmant-schäbigen Brüssel. Jetzt wird es Zeit, dass ich meiner Heimat wieder auf die Pelle rücke. Denn mir fehlt das Schreiben. Deshalb möchte ich zurück. Köln ist abgegrast, München schön aber manchmal großkotzig, nach Berlin komme ich in letzter Zeit viel zu selten. Dabei fühle ich mich immer wie Zuhause, wenn sich die Sonne im Fernsehturm spiegelt, während ich gerade in einen Hundehaufen trete.”
Das waren die ersten Worte, die ich von Anja gelesen haben und ich wusste sofort, dass in dieser Frau noch viel mehr Witz und Wortgewandtheit steckt. Ganz nach Berlin ist sie leider doch nicht gekommen, aber ab heute eine neue Co-Bloggerin auf Lilies Diary, die euch im ersten Post etwas über das Thema “Heimat” erzählt. Vorhang auf und Applaus für Anja:
Die Vorstellung von Heimat ist dehnbar wie der Bund meiner Trainingshose. Das dämmerte mir an dem Tag, als ich sie verließ. Der zu eng gewordenen Kleinstadt war ich entflohen und rannte durchs tosende Berlin. Plötzlich war ich die Landpomeranze. Viel tun musste ich dafür nicht. Den anderen gelang es ratz-fatz mich in pseudo-geographische Schubladen zu stecken. Später in Köln speicherten mich die einen unter “Icke” in ihr Handy, für die anderen blieb ich die Zonenbraut. Heute lebe ich in Brüssel und bin “die Deutsche”. Meine Identität ist ganz offensichtlich mit der Distanz zur Heimat gewachsen, sie hat einen dicken Bauch bekommen.
Nun haben diese Fremdzuschreibungen nicht zwangsläufig mit meinem gefühlten “Ich” zu tun. Aber Rückkopplungen mit meinem Selbstverständnis ergeben sich durchaus. Wenn ich heute danach gefragt werde, woher ich komme, müsste ich eigentlich weit ausholen. Denn ich habe im Laufe der Jahre eine Vielzahl verschiedener Heimatklumpen in mein Herzköfferchen geschlossen. Zum Glück geben sich die meisten aber schnell zufrieden, wenn ich sage, ich komme aus Deutschland. Gut, das mag unpräzise erscheinen. Aber im Gegensatz zu einem Land wie, sagen wir mal, Kiribati, verbindet eine große Mehrheit zumindest fundiertes Halbwissen mit der Bundesrepublik. Genug, um den Grundriss meiner großen Heimat zu skizzieren.
Klar, Deutschland ist facettenreicher als ein Steckspiel aus Volkswagen, Sauerkraut und Pünktlichkeit. Jeder, der schon mal länger in Deutschland gelebt hat, weiß das. Auch meine märkische Heimat kann weit mehr als Neonazis produzieren, Plattenbauten abreißen und seinen Einwohnern bei der Landflucht hinterherwinken. Das wissen alle, die Brandenburg nicht nur für den trostlosen Korridor vor den Toren Berlins halten.
Vor diesen Toren bin ich geboren. Ich komme aus einem Land, das es heute nicht mehr gibt, habe aber den Großteil meiner Zeit irgendwo im bald geeinten Deutschland verbracht. Allein deswegen bin ich Auskennerin. Zumindest wird das im Ausland häufig so wahrgenommen. Und während ich versuche zu erklären, wie sich “Deutschland” so für mich anfühlt, stelle ich fest, wie mein Vagabundendasein den Blick auf die Heimat nach und nach verändert. Ich habe die Abgründe und Untiefen der deutschen Seele jenseits der Landesgrenzen nochmal ganz neu entdeckt. Und der Vergleich mit dem Neuen schärfte die Perspektive auf das Alte. Wie im Teleskop.
Einen dieser Momente absoluter Tiefenschärfe erlebte ich in einem belgischen Supermarkt. Noch am Eingang wich ich vor den PVC-Lamellen zurück. Oh je, wir gehen ins Schlachthaus. Angstschweiß benetzte meine Stirn. Nur noch mit einem Fuß auf dem sicheren Parkplatz, graute mir schon vor dem gewohnten Viehtreiben manch einer deutschen Supermarktkasse. Mir schossen die Bilder nur so durch den Kopf: Der unablässig in die matschigen Hacken gepreschte Einkaufswagen; die Kassiererin, die das Wechselgeld schon abzählt, noch bevor man Zeit hatte, das Portemonnaie aus der Tasche zu befördern; die bösen Blicke der Wartenden bei dem leisesten Anzeichen von Bummelei; überhaupt diese fiese Schlange im Rücken. Ich atmete jedes mal erleichtert aus, sobald ich wieder draußen war.
Im Bauch des als Schlachthaus getarnten belgischen Supermarkts erwartete mich nichts von alledem. Im Gegenteil. Die Kassiererin plauderte in aller Seelenruhe. Erst mit der Kundin über ihre Weinauswahl, dann mit ihrem Kollegen am Schalter nebenan. Ganz unbeirrt tat sie das. Der nächste Einkäufer nahm es ihr keineswegs übel. Er passte den günstigen Moment ab und schwatzte freimütig drauf los. Die Belgier schienen ein recht mitteilsames Völkchen. Aber immer erst wenn sie an der Reihe waren. Davor standen sie still und stumm und gleichmütig. Wagen an Wagen. Wie Kühe im Gatter. Nichts bewegte sich. Ich dagegen fing beinahe an, mit den Füßen zu scharren. Und plötzlich wurde mir eines klar: Ich reagierte mit einem ganz nationalen Reflex.
Die deutsche Stressmacherei keimte auch in mir. Mist! Dabei war ich nicht mal in Eile. Ich wollte nur den Abend nicht im Supermarkt vertrödeln. Aber wildes Wutschnauben änderte nichts an der festgefahrenen Lage. Ich hätte natürlich Baguette, Käse und all die übrigen – vor der Brust aufgestapelten – Leckereien zur Seite werfen können, um die lahme Kassiererin eines Besseren zu belehren und mit großer Geste zu türmen. Das hatte ich in Köln schon erlebt. Aber dann würde mein Magen weiter knurren. Ausgeschlossen. Also besann ich mich und lauschte den munteren Unterhaltungen vor mir. Heute, ein Jahr später packe ich meistens ein Buch in meinen leeren Einkaufsbeutel und genieße gut vorbereitet die belgische Gelassenheit, als wäre sie meine eigene.
Auch außerhalb der Kaufhalle setzen Belgier gern auf Laissez-faire. Sie sind Meister darin, dem Zufall einen Schubs zu geben. Während in deutschen Innenstädten Schilderwälder gepflanzt werden, kann man in Brüssel froh sein, wenn man den Flughafen findet. Wer der Stadt deshalb schlechte Organisation vorwirft, macht es sich zu leicht. Ich vermute eher, die Menschen hier haben weniger Angst vor den Unwägbarkeiten des Alltags. Der Hang zum Perfektionismus geht ihnen ab. Andere versuchen, bloß keine Fehler zu machen, bloß keine Umwege, bloß nichts im Ungefähren zu lassen. Die Belgier stürzen sich unverzagt ins Leben. Sie genießen und kümmern sich erst danach, um das, was andere von ihnen erwarten. Das verblüfft mich jedes mal aufs Neue.
Natürlich ist mein Blick eingefärbt und auch auf belgischen Avenuen hupen Autofahrer ihren Unmut über andere Verkehrsteilnehmer heraus. Aber es gibt eben auch jene, die sich zurücklehnen, wenn der Fahrer vor ihnen das Gaspedal nicht findet und die Grünphase verpennt. Von dieser Nachsicht möchte ich mir eine saftige Scheibe abschneiden. Und wenn ich dann das nächste Mal mein Teleskop auf die Heimat richte, freue ich mich, wenn sich aus den Wirbeln von Hast und Hektik die Konturen einzelner entspannter Zeitgenossen herausschälen.
Erzählt mal, was habt ihr unterwegs über die eigene Heimat gelernt?
5 Kommentare
ich bin auch märker.steige hoch,du roter adler und so.und ich hab gelernt,dass das wohl doch eine etwas sehr schnelle und leichte verurteilung war,dass nich alle leute in meinem jahrgang aus der heimat weggerannt sind,sobald sie die gelegenheit hatten.
Hallo Anja,
vielen Dank für diesen schönen Beitrag, gerne mehr davon. Auf Reisen ist mir auch aufgefallen, dass wir Deutschen aufspringen, sobald am Flughafen das Boarding beginnt, uns nach der Landung sofort abschnallen, das Gepäck aus den Fächern kramen und dann wie blöd im Gang stehen, bis sich die Türen öffen. Dann sind wir die ersten am Kofferband, die am besten so nah dran stehen wie nur möglich. Als ob es dadurch schneller gehen würde. Ich versuche mich in solchen Situationen entspannt zu verhalten, um mich nicht anstecken zu lassen. Durch Gespräche mit Bekanntschaften im Urlaub oder Geschäftspartnern habe ich festgestellt, dass Pünktlichkeit, Genauigkeit und regelkonformes Verhalten uns Deutschen zugeschrieben wird. Sicherlich hat die Einstellung “laisser faire” einen großen Reiz, dennoch finde ich sollte man einen Kompromiss zwischen diesen Extremen für sich finden. Am Steuer beispielsweise ticke ich auch regelmäßig aus, da kann ich nicht wider meiner Natur.
Du sprichst mir aus der Seele, ich erinnere mich nach zwei Jahren Belgien zu gern an den ersten Einkauf und den entspannten bisou meines Chefs. Ich habe es sehr genossen von dir zu lesen,… Dankeschön
Hallo Witch Baby,
vielen Dank für den Ohrwurm :) Ich habe mir überlegt, dass ich Euch meine Prignitzer Heimat mal vorstellen werde – mit ein paar Ausflugstipps für Hexenjäger, Mumien-Versteher und Pferdenarren. Da wird hoffentlich auch was für Dich dabei sein oder hast Du sogar Tipps? Liebe Grüße in die sandige Heimat!
Nabendschön Tubango,
ich freue mich, dass Dir der Text gefällt. Dann sind wir jetzt also schon mindestens zwei, die aufgeregte Fluggäste, gehetzte Bahnfahrerinnen und genervte Schlangensteher mit maßvoller Zurückgelehntheit anstecken können. Steter Tropfen und so…
Liebe Grüße in die Nacht