Wie fühlt sich blind sein an? “Man schaut, aber da ist nichts, wohin man schaut. Nichts!” Dieser Satz beschreibt annähernd, wie sich blind sein anfühlt. Im “Dialog im Dunkeln” in Wien wird Sehenden eine solch außergewöhnliche Situation näher gebracht: Blinde führen Sehende hier durch einen komplett abgedunkelten Raum, der etwa so groß ist wie zwei Basketballfelder und auf dem, wie bei einem Parcours, ganz alltägliche Situationen nachgebaut sind. Da gilt es zum Beispiel, einen Waldspaziergang zu genießen und seinen Weg zu finden, sicher über eine viel befahrene Straße zu kommen oder einfach einkaufen zu gehen. Am Ende kann man sich in der nachgebauten Bar sogar eine Cola kaufen – vorausgesetzt, man ertastet den Geldbetrag richtig und kann bezahlen.
Ich möchte euch erzählen, wie sich mein Selbstversuch im “Dialog im Dunkeln” anfühlt:
Als ich in den Raum geführt werde, gleitet meine linke Hand schon eine kühle, raue Wand entlang. Zwei Kurven später ist jeglicher Lichtschimmer erloschen und ich sehe nichts als schwarze Finsternis. Kurz gesagt also, ich sehe: NICHTS! Die nächste Stunde erfordert höchste Konzentration von all meinen Sinnen, die mir noch geblieben sind. Denn der sehbehinderte Matthias wird mich durch seine Welt der Dunkelheit führen. Ich befinde mich im Kellergewölbe des Schottenstifts, einem alten Wiener Kloster. Beim Projekt „Dialog im Dunkeln“ führen blinde und sehbehinderte Guides Sehende durch diverse alltägliche Situationen. Mein Guide heißt Matthias. In der Dunkelheit bin ich völlig auf ihn, meinen Hörsinn und meinen Tastsinn gestellt. Auf diese muss ich mich jetzt voll konzentrieren!
Der Antrieb für diese außergewöhnliche Erfahrung “wie fühlt sich blind sein an?”, rührt von unserem Teamwochenende. Dort versuchten wir uns mit so tiefgründigen Fragen wie: „Was wärest du lieber, wenn du dich entscheiden müsstest? Blind oder taub?“, so richtig kennenzulernen. Demonstrativ hatte ich mich der Antwort enthalten. Ich empfand die Überlegung nicht nur respektlos gegenüber Betroffenen, sondern auch irgendwie ziemlich angsteinflößend. Nach der atemberaubenden Kulisse am Weissensee war allerdings klar: blind sein, käme für mich nicht in Frage!
Wie fühlt sich blind sein an? Das Experiment.
Alles, was Licht machen könnte, musste ich hier im Kellergewölbe der „Dialog im Dunkeln“ – Führung draußen ins Schließfach legen: mein Handy ebenso wie meine Uhr! Als erste Station durchquere ich einen Wald. Das heißt, ich vermute, ich durchquere einen Wald. Der Boden unter meinen Füßen ist weich, Vögel zwitschern und mit der rechten Hand ertaste ich die glatte Rinde von Bäumen. Es sind diese Weißen. Birke nennt man das wohl. Meine linke Hand bleibt an der kühlen rauen Wand! Das ist mein einziger Orientierungspunkt, damit ich mich zurechtfinden kann. Mit der rechten Hand rolle ich mit einem Blindenstock über den Boden, der mir noch nicht so ganz flüssig gehorchen will. Matthias läuft munter mit einigen Metern Entfernung vor mir her. Für ihn ist das hier alter Tobak. Er kennt das Gelände wie seine Westentasche. Seiner Stimme soll ich folgen. Das klappt eher schlecht als recht. Manchmal, wenn er etwas sagt, kann ich nur zögerlich reagieren. Ich muss seine Stimme erst zuordnen und verarbeiten.
Irgendwann überquere ich eine hölzerne gewölbte Brücke. Von diesem ganzen auf und ab und links und rechts, wenn man mal wieder die Orientierung sucht, kommt mein Gleichgewichtssinn ganz außer Kontrolle. Ich habe ein flaues Gefühl im Magen und mein Kopf schwirrt. Da werde ich von Matthias vorsichtig in ein Boot gesetzt. „Ohje!“, denke ich mir. Als wir „losfahren“, fängt es an zu schwanken, eine frische Briese steigt mir in die Nase und ein paar Tropfen Gicht peitschen ins Gesicht. Die Fahrt ist schier unendlich. Wir fahren natürlich nicht wirklich. Aber für meinen blinden Körper fühlt es sich täuschend echt an. Wie in einem 3D Kino wippt das Boot auf und ab, um den Wellengang zu imitieren. Meinen Guide kann ich durch das Motorengeräusch nicht mehr hören. Sehen ja sowieso nicht. Ich frage mich, ob er noch da ist? Medium-panisch beginne ich zu fantasieren. Wann wohl jemand anfangen würde, nach mir zu suchen? Finde ich jemals wieder heraus, wenn Matthias auf einmal umkippt und ich völlig alleine hier drin bin? Ich frage mich, ob in diesem Raum überhaupt die Möglichkeit besteht, Licht anzumachen? Ich möchte wieder an Land! Ich möchte wieder etwas sehen!
Wie fühlt sich blind sein an? Ich bin verwirrt.
Es ist verwirrend. Ich habe meine Augen auf und dennoch sehe ich nichts. Spätestens nach der Bootsfahrt merke ich, dass sich meine Haltung merklich verändert hat. Ich gehe nicht mehr komplett aufrecht: Adé „Brust raus, Bauch rein“. Ich bewege mich nun achtsamer fort: den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, mit der linken Hand bereit zum Tasten. Wenn ich stehen bleibe und mich mit meinem Gegenüber unterhalte, schaue ich ihm nicht in die Augen. Mein Blick schaut einfach ins Leere: Ich fokussiere NICHTS! Damit ich mein Gegenüber besser hören kann, benutze ich meine Ohren. Weil die an der Seite vom Kopf sind, mein Gesprächspartner aber vor mir steht, drehe ich meinen Kopf. Seitlich, ein bisschen nach oben gerichtet und mit ausgestrecktem Hals, damit ich besser hören kann. Mein Blick bleibt leer.
Im Spielzeugladen läuft meine Konzentration auf Hochtouren. Ich ertaste ein Dreirad, eine Kasse und Werkzeug. Dabei bin ich gar nicht so schlecht! Aber so langsam wird mir wirklich mulmig. Meine Sinne sind diese Extremsituation nicht gewöhnt. Gibt es so was wie Sinnes-Muskelkater? Sicherlich kann man Sinne trainieren. Warum sonst habe ich das Gefühl, dass auf einmal alles etwas lauter ist, als sonst? Nach dem Spielzeugladen kommen wir an die nächste Station: hier wurde ein reger Straßenverkehr nachgebaut. Dazu erklingen laute Verkehrsgeräusche, es hupt, das Gerede der Fußgänger vermischt sich zu einem lauten Brei. An einer Ampel muss ich stehenbleiben. Mir brummt der Schädel. Es ist schwer, bei dem ganzen Autolärm auf das Signal der Ampel zu achten. Irgendwie verhöre ich mich, laufe los und werde fast überfahren! Matthias kann mich gerade noch zurückziehen. Ich bin gegen das Auto gelaufen, dass dort auf so unachtsame Leute wie mich wartet.
Wie fühlt sich blind sein an? Ich sehe noch immer nichts.
Am Ende unserer Sinnestour führt mich Matthias in eine Bar. Auch hier arbeiten natürlich Blinde. Beim Bezahlen muss ich mein Geld ertasten, das ist bei Scheinen gar nicht so spaßig sondern ziemlich nervig. Ich bin also auf die Hilfe der Bardame angewiesen. Hoffentlich zockt sie mich nicht ab!
Am Ende meiner Reise möchte ich von Matthias wissen, womit sich Sehende in seiner Gegenwart regelmäßig lächerlich machen. Er muss nicht lange überlegen. Es sind nicht so Sätze wie: „Auf Wiedersehen“ oder „Hast du den letzten Tatort gesehen?“, sondern die erschrockenen Entschuldigungen danach. Wenn es dann heiß: „Huch, verzeih. Also gehört meine ich?“ und „Auf Wiederhören.“. Ich schäme mich, weil das doch die Unsicherheit der Sehenden widerspiegelt. Aber es gibt noch viel schlimmere, nicht seltene unangenehme Situationen zwischen überengagierten Sehenden und Sehbehinderten: „Neulich wurde ich auf die Bank gesetzt, obwohl ich einfach nur stehen wollte und alles prima war! Oder letztens wurde ein Freund an einer Haltestelle in die Tram gezogen, obwohl er dort nur auf jemanden warten wollte!“ Quintessenz: Bitte höflich fragen, bevor man einem Blinden helfen möchte. An lauten, neuen Baustellen wünscht sich Matthias solche Angebote manchmal sogar. Denn die sorgen bei ihm am Meisten für Unbehagen.
Mein Ausflug in die Welt der Sehbehinderten war wahnsinnig beeindruckend und aufschlussreich. Am meisten hat mich beeindruckt, wie schnell und deutlich der Körper auf die besondere Situation reagiert und sich anpasst. Außerdem fand ich im wahrsten Sinne des Wortes augenöffnend, so einen Einblick in die Welt der Sehbehinderten zu bekommen und sie so vielleicht ein Stückchen besser verstehen und in den Alltag integrieren zu können.
Vielen Dank an “Dialog im Dunkeln” in Wien für den Einblick.
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