Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich zu Beginn meines Studiums immer wieder gemeckert und gemosert habe, weil ich zu viel zu tun hatte, keine Zeit zum Schlafen hatte und nach drei Wochen Dauerlernen aussah, wie ein Monster. Meine Mama hatte dann immer gute Sprüche auf Lager: Anne, du musst weniger machen. Wann muss man eigentlich aufhören? Und warum können das viele Menschen einfach nicht? Und wieso wurden aus dem Burnout und der Depression erst Modekrankheiten und jetzt wenig ernst genommen Krankheiten, über die man fast lacht?
Ich treffe mich mit meinem Sprechstunden-Partner in einem Café am Alexanderplatz und alles was ich weiß ist, dass er mir was zu erzählen hat.
1. Name, Alter, Beruf: Peter*, 31 Jahre alt, jetzt Student (*Name geändert)
2. Wie kam die Person zu mir: Über Facebook nachdem wir nach Sprechstunde-Gästen gesucht haben. Alles was er sagte war: ‚Ich habe euch etwas zu erzählen’
3. Was trinkt die Person: Latte Macchiato
„Entweder du weist mich jetzt ein, oder ich bin in einer Woche nicht mehr da“, waren Peters Worte zu seinem eigenen Arzt, nachdem er seine letzte Kraft zusammen genommen hat und seinem eigenen Tod entkommen ist. Eine Geschichte, die ich ihm nie glauben würde, wenn ich ihn einfach so gesehen hätte. Weißes Hemd, Lederjacke, groß und schlank – weit und breit kein Zeichen von Depression, Angst und Suizidgedanken. Doch genau so war es. Peter öffnet sich und erzählt mir von seinem Leben, gezeichnet von Betrug, Lügen, viel zu viel Arbeit und Schmerzmitteln.
„Ich bin in einem 80.000 Seelenkaff direkt neben Bremen aufgewachsen“, erzählt Peter. Dort hat er seine Ausbildung zum Industriekaufmann abgeschlossen. Dort ist er in einem guten Elternhaus ohne jeglichen Mangel an finanzieller Mittel groß geworden. Und dort wurde er ausgenutzt, belogen und betrogen – von seinen eigenen Freunden und seiner 18-jährigen Freundin. „Das war das erste Mal in meinem Leben, wo ich so richtig einen Schlag auf die Fresse gekriegt habe“, berichtet Peter. Damit meint er, dass seine Freunde nur das Geld gesehen haben, nichts weiter. Er hat bezahlt, gearbeitet und war immer in der Position des Geldgebers. Doch das hielt er nicht lange aus und so stürzte er sich in die Arbeit.
Ich verlasse häufig meinen Schreibtisch und denke mir, dass ich mal wieder nichts geschafft habe, weil etwas wichtigeres, wie ein Kaffee mit der Freundin dazwischen kam. Ein Gedanke, den Peter nie wirklich hatte, denn ein soziales Leben gab es für ihn nicht mehr. Das, was er von zu Hause aus kannte und was ihn immer gestört hat, übernahm er jetzt für sein eigenes Leben: Arbeit und Geld. Schnell rutsche er in einen 10-stündigen Arbeitstag, bevor er für einen neuen Job nach Tschechien zog. Ich finde 10 Stunden schon beachtlich und würde bei einem solchen Pensum verkümmern. Peter setzte einen drauf. Neue Stadt, eine Sprache, die er nicht verstehen konnte und keine Freunde. Was bleibt einem da, außer die Arbeit?
Um 4:45 klingelte Peters Wecker. Um 6 saß er im Büro. 20:00 war Feierabend. Das sind schlappe 14 Stunden im Büro. Und das ging nur noch mit Schmerztabletten. „Wie andere zu ihren Zigaretten greifen, hab ich zu meinen Schmerzmitteln gegriffen“, so Peter. Schon morgens hat er sich zwei starke Schmerztabletten eingeschmissen. Am Tag kam er so auf acht Tabletten, die ihm über die Schmerzen vom stetigen Sitzen und der heruntergeschluckten Depression geholfen haben. Ein Tagesrhythmus geprägt von Arbeit und Schmerzmitteln. „Ich wusste mit mir freizeitmäßig gar nichts mehr anzufangen“, sagt Peter. Und dabei stell ich mir vor, wie es wäre, wenn es für mich nur noch Arbeit gäbe. Tagein, tagaus, nichts anderes machen, als nur vor dem Computer zu sitzen, ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt, denn Freunde gibt es nicht. Schrecklich.
Peter führte dieses Leben der Arbeit und Depression weiter. Auch nach seinem Umzug zurück nach Deutschland. Zwischen 2006 und 2011 nahm er acht Tage Urlaub, und das auch nur, weil sein Chef ihn auf Zwangsurlaub setzte. So führte er seinen Alltag weiter. Bis es nicht mehr ging. Depression, Dauermüdigkeit und eine starke Abhängigkeit von Schmerzmitteln belasteten ihn. An dem Punkt, wo ich mit meinen Freunden oder meiner Familie reden würde, war Peter alleine. Der einzige Ausweg? Ein Strick. Peter ging in den Baumarkt und kaufte sich einen Strick. Ein Bild, das ich mir nur verschwommen vorstellen kann.
Jeder geht einmal durch schwierige Phasen. Nie konnte ich mir bisher vorstellen, was geschieht, wenn es nicht mehr geht. Was in unseren Köpfen abgeht, wenn völlige Leere herrscht und wenn es keinen da draußen gibt, der uns zuhört, versteht oder helfen möchte. Dann kauft man sich anscheinend einen Strick. „Ich fragte mich jeden Morgen: Hält dieses Geländer es wirklich aus, wenn ich da jetzt einen Strick herumwickel und springe?“, beichtet Peter. Gedanken, die mir noch nie durch den Kopf gingen und mir Angst einjagen. Peter befand sich in einem Teufelskreis der Leere und Depression. Arbeit – Schmerzmittel – Arbeit und brachte trotz völliger Depression die Kraft auf, sich vor seinem eigenen Tod zu schützen. Ein Gang zum Arzt und ein Satz schützten ihn vor dem endgültigen Sprung. Eine Kraft, die andere Menschen erst einmal aufbringen müssen. „Entweder du weist mich jetzt ein, oder ich bin in einer Woche nicht mehr da.“
Wenn man ganz unten am Boden und kraftlos ist, wie kommt man da von selbst wieder heraus? Peter hat es gezeigt. Er hat sich einweisen lassen. Und so begann eine zweimonatige Therapie zusammen mit anderen Suchtpatienten, Depressiven und Menschen mit Angstzuständen. Zwei Monate Cold Turkey. Weg von den Schmerzmitteln, Peters einziges Mittel, das ihn durch seinen arbeitsintensiven Alltag geholfen hat. „Ich hatte Schmerzen. Große Schmerzen und habe vor Schmerzen gekotzt. Eine Woche lang!“, sagt Peter. „Jedes Körperteil tat mir einfach nur weh.“ Aber er lebt. Und ist auf dem Weg zu seinem neuen Leben. Ein Leben, das er sich selbst ermöglicht hat. Aber auch ein Leben, das unterschiedlicher hätte nicht sein können. Vom Haus und der Eigentumswohnung mit 25, zum kleinen WG-Zimmer in Berlin. Peter studiert jetzt. Er brauchte zwei Jahre, um sich nur um sich selbst zu kümmern und zu lernen, wie man in einem Leben ohne Schmerzmittel und einem 14-Stunden Arbeitstag klar kommt. Ein Leben gezeichnet von Reichtum, den falschen Freunden und vielen Lügen brachten Peter in den Strudel der Arbeitssucht. Er wollte sich nicht mehr ausnutzen und aushalten lassen. Er ging seinen eigenen Weg und wurde Opfer seiner eigenen Einsamkeit und seines Willens immer besser zu werden und mehr zu machen, die ihn bis in die Depression und zu Suizidgedanken führten.
Ich habe mir oft gewünscht nur ein Mal in meinem Leben einen harten Job zu haben, der mich an meine Grenzen bringt und mir zeigt, dass ich es kann. Wenn ich allerdings eine solche Geschichte höre, frage ich mich, warum? Wieso muss ich es mir oder, noch schlimmer, anderen beweisen? Ich arbeite nur für mich, für meine eigenen Ansprüche und eigenen Ziele. Ich muss mich nicht tot arbeiten, nur um es jemandem zu beweisen und mich dann selbst in diesem Arbeitsstrudel und der Depression wieder zu finden. Dennoch ist dies eine Sache, die man häufig eher weniger beeinflussen kann.
Ich bin viel in der Welt herumgekommen und immer, wenn ich gerade in einem weniger entwickelten Land bin und über Deutschland nachdenke habe ich ein Bild von stetigem Wettkampf und der Gier nach Geld vor mir. Das ist falsch, zumindest in meinen Augen. In welcher Gesellschaft leben wir, dass wir uns über Geld und unsere Arbeit definieren? Gibt es nicht andere Dinge im Leben, die wir schätzen?
Peter zeigte mir, dass Geld und Arbeit nicht alles sind und vieles zerstören können. Nicht nur Freundschaften, sondern ein ganzes Leben.
8 Kommentare
Um erstmal auf die Eingangsfrage zu antworten: „Ja, in Japan zum Teil schon.“
Ich finde es schrecklich, wenn man über den Beruf definiert wird.
Ich mach mir nichts aus Geld, aber man braucht es nunmal zum Überleben.
Ich bin über 30 und immer noch auf der Suche nach etwas, was mir genug Geld zum Leben bringt und auch Spaß macht. ;)
Hier in Japan hab ich das zwar seit vielen Jahren, aber das ist auch nichts, was ich auf Dauer machen möchte. Mich zieht es weiter und auf zu „neuen Gewässern“.
Das ist ein wirklich traurige Geschichte und ich bin mir sicher, dass das auch was ist, wovor viele insgeheim Angst haben. Schließlich kann das jedem passieren. :(
Unglaublich, diese Geschichte! Ich arbeite an der Uni und bekomme immer mit, wieviel unsere Profs. ackern, das wäre absolut nichts für mich! Meine Freizeit ist mir viel zu wichtig.
Ich habe meine Promotion abgebrochen, weil mir in der Zeit klar geworden ist, dass mir andere Dinge viel wichtiger sind und ich keine große Karriere machen möchte.
Liebe Grüße
Jessi
Das ist doch super, dass du das erkannt hast!
Vielen Dank für diesen Artikel!
Gerne
Ein wirklich guter Artikel und traurig, dass unsere Gesellschaft Menschen soweit bringen kann. Sicherlich ist es eine Frage der Persönlichkeit, wie man mit dem Erlebten umgeht, dennoch ist es unfassbar, dass diese Entwicklung an allen in seinem Umfeld vorbeigegangen ist bzw. es kaum jemanden in seinem Umfeld gab, dem dies hätte auffallen können. Vermutlich gibt es noch viel mehr Menschen in ähnlichen Situationen, schließlich kommen auch mir immer öfter Diagnosen wie Burnout und Depression zu Ohren.
In einer Leistungsgesellschaft wie der unseren wird es wohl noch viel Zeit und Kraft kosten, eine veränderte Einstellung zur Arbeit zu schaffen, um Menschen vor Situationen wie dieser zu bewahren. Mach weiter mit deiner Sprechstunde, so werden diese Menschen wenigstens gehört.
Hallo Christine,
den Grundstein für solch einen Werdegang bekommen wir fast alle aus „traditionellen“ Werten in die Wiege gelegt. Dabei fällt uns häufig gar nicht auf, dass das Leben viel mehr zu bieten hat…denn nur selten schaut man über den „Tellerrand“ seiner kleinen Welt. Obwohl es dort viele andere „Lebensentwürfe“ gibt die vielleicht besser, ausgewogener sind und sich nicht nur um materielle Dinge drehen.
Ich habe darüber vor ein paar Wochen einen Artikel geschrieben :
http://feel4nature.com/aussteigen-aus-dem-hamsterrad-warum-es-keine-alternative-gibt/2014
Vielleicht schaust Du ja mal rein…
Ich für meinen Teil bin sehr froh, dass ich mittlerweile andere Werte gefunden habe über die ich mein Leben definiere als Geld, Anerkennung und materieller Besitz. Denn wir sind – was wir tun…und nicht was wir besitzen.
Liebe Grüße, Christian
Hallo Christine,
Wenn ich so was lese bin ich froh das ich mich immer für meine Kinder statt der beruflichen Karriere entschieden habe. Ich habe die Lehre abgebrochen, weil der Betrieb mir keinen Urlaub zur Geburt meiner Tochter geben wollte. Später habe ich das Studium abgebrochen um nach der Trennung die Kinder zu erziehen. In der Zeit danach habe ich ein Betrieb gefunden, der mir die freie Zeiteinteilung gewährt und ich meine Kinder mit in den Betrieb nehmen konnte. Jetzt arbeite ich 24h in der Woche und fahre wenn es läuft, vor der Arbeit oder in der Mittagspause zum Wellenreiten. Lieber wenig Geld und viel freibestimmte Freizeit, als mit viel Geld und keine freibestimmte Freizeit.
LG Eric