Es sind nicht die Orte selbst, die uns auf einer Reise verändern. Es sind die Menschen, die wir treffen und uns ihre Geschichten erzählen. Als ich mich entschied Deutschland den Rücken zu kehren und auszuwandern, wusste ich nicht welche Begegnungen mir bevorstehen würden; ich hatte keine Idee was auf mich zukommen würde und ich ahnte nicht, wie sich auch mein Herz in nur wenigen Monaten ändern würde.
Sie sitzt neben mir auf der kleinen hölzernen Veranda, ihr langes graues Haar hat sie mit einem pinken Stirnband und einer kleinen schwarzen Haarklammer nach hinten gesteckt. Der Wind weht durch die lockigen Haarspitzen, ihre Augen strahlen. Sie sieht jünger aus als sie ist, denke ich mir, als sie mir ihr Geburtsdatum verrät. Nur noch zwei Wochen und sie wird ihren 74. Geburtstag feiern. Sehr wahrscheinlich alleine. Oder wartend auf ihren 30 Jahre jüngeren Ehemann. Ich bin gerade erst wieder nach Hause gekommen nach einem Monat Reisen. Ich habe diesen kleinen Ort sehr vermisst. Erst vor wenigen Monaten bin ich mit meinem Freund von Kapstadt nach Pringle Bay an Südafrikas Küste gezogen. Es ist der erste Morgen nach unserer Ankunft und ich hatte mich gerade mit einem Kaffee in die warme Sonne gesetzt, als Barbara um die Ecke bog und mich freundlich anlächelte. Sie war auf der Suche nach einem alten Ehepaar, welches vor Jahren in unserem Häuschen gelebt hatte. Ihre Füße taten ihr weh von dem langen Fußmarsch. Ich bin ehrlich: Ich wollte eigentlich nur in Ruhe meinen Kaffee trinken und nicht den Geschichten einer alten Frau lauschen. Die letzten zwei Tage bestanden aus Abschieden, Flügen, Transfer, verlorenem Gepäck, verschwundenem Handy, einem geplatzten Autoreifen und der toten Katze unserer Nachbarn. Aber Barbara sah so aus als würde ihr ein kleiner Plausch sehr gut tun. Wie sollte ich sie jetzt auch wegschicken. Ich bin ja kein Unmensch. Ich nehme also einen großen Schluck vom Kaffee und sie legt los mit ihrer Geschichte.
Die kommenden zwei Stunden ist es meine Aufgabe geschockt zu sein, die Augen aufzureißen, Barbara gut zuzusprechen. Auch wenn sie all dies nicht wirklich braucht oder danach fragt. Sie ist nicht auf der Suche nach Mitleid, nur auf der Suche nach einer Lösung und nach einem Ohr.
Ihr Ehemann ist nicht nur 30 Jahre jünger, sondern lebt auch mit seinen Eltern, einer neuen Frau und ihrem gemeinsamen Sohn im 15 km entfernten Kleinmond. Barbara besitzt zwar ein Auto, aber Kleinmond ist in ihrem Kopf so weit von Pringle Bay entfernt wie Deutschland von Pringle Bay für mich. Der Sprit ist einfach zu teuer und Unruhe möchte sie in dem Haus der Familie auch nicht stiften. Dabei schaut sie verliebt auf ihren Ehering, der im Sonnenlicht an ihrem Finger funkelt. Sie liebt ihren Ehemann. Die beiden sind verheiratet, glücklich. Darauf besteht sie. Er musste nur wegziehen wegen dem Job, dem Geld und weil er für die Eltern da sein wollte. Das es eine andere Frau gibt, das hörte sie erst später. Von Freunden. Aber Barbara stört sich daran nicht wirklich. Ihr Mann kommt ja immer noch vorbei, kümmert sich und erzählt ihr, dass er die andere Frau schon lange loswerden will. Der Familie wird die Wohnung in Kleinmond gekündigt und jetzt ist Barbara auf der Suche nach einer 2-Zimmer-Wohnung für ihre Schwiegereltern und den Ehemann. Ihr eigenes Haus ist einfach zu klein für alle. Nur eine 3-Zimmer-Wohnung darf es nicht sein. Da könnte es Platz genug geben für eine unerwünschte Person mehr.
Ich verspreche ihr, die Augen und Ohren offen zu halten. Mein Bauch verkrampft sich. Mir tut es weh, dass eine so zierliche alte Dame sich so behandeln lässt. Aber ich verstehe wo sie herkommt. Nach über einem Jahr in Südafrika schockt mich nicht mehr viel.
Ich erfahre, dass ihr erster Ehemann gestorben ist, als sie noch sehr jung war. Sie besitzt ein Haus in Kapstadt, das sie seit über 20 Jahren an die gleiche Dame vermietet, die ihre Miete jeden Monat pünktlich zahlt. Barbaras Rente. Ihr Haus in Pringle Bay hat sie in zwei Haushälften umgebaut. Alleine. Die eine Hälfte vermietet sie. Als sie mir von ihrem Mieter erzählt, würde ich am liebsten aufspringen, zu ihrem Haus laufen und dem Herrn Manieren beibringen. Das würde ich in Deutschland machen. Oder die Polizei rufen. Hier habe ich aber gelernt, dass weder das Eine, noch das Andere etwas ändern würde. Er zahlt die Miete und erklärt sich jedes Jahr aufs Neue bereit, für ein weiteres Jahr den Mietvertrag zu unterschreiben. Dafür erträgt Barbara schlechte Laune, verbale Attacken und sogar ein “Vielen Dank und Herzlichen Glückwunsch” von ihm, als ihr geliebter kleiner Hund vor einem Jahr starb.
Barbara ist alleine, auf sich selbst gestellt, stemmt Dinge und Situationen, auf die die meisten Menschen in der Ersten Welt nie treffen werden.
Sie fängt an von ihrem Sohn zu reden. Er ist ihr zweites Kind. Das erste Kind, ein Mädchen, verstarb nur wenige Stunden nach der Geburt. Barbara verspürte große Schmerzen in ihrem Unterleib und hatte das Gefühl, dass mit ihrem Kind nicht alles in Ordnung ist. Die Krankenschwester forderte sie auf zu warten und nicht so laut zu schreien. Barbara war machtlos und sah ihre Tochter sterben. Ihren Sohn schickte sie später auf ein Internat, so dass sie Zeit zum Arbeiten hatte. Sie ernährte sich und ihren Sohn nach dem Tod des Ehemanns alleine.
Erst als das südafrikanische Jugendamt ihr den Sohn wegnahm und ihn in ein Heim steckte, erfuhr sie, dass er im Internat über mehrere Jahre schwer vergewaltigt wurde, von seinen Lehrern und Mitschülern. Nach ein paar Wochen fuhr sie in das Heim und war erstaunt, wie schön es dort doch war. Mit 45 Jahren stirbt ihr Sohn an dem Aids-Virus, das bei einer der Vergewaltigungen in seinem Leben übertragen worden sein muss. Vielleicht war er auch schwul. Im Nachhinein ist sie froh, dass sie nicht eine Tochter in dieser Welt großziehen musste.
Ich möchte Barbara in den Arm nehmen, ihr sagen das alles gut wird, aber sie erzählt diese Geschichten, als würden sie zum Leben dazugehören. Sie glaubt fest an Gott und an positive Gedanken. Sie liebt ihr Leben, ihr Haus, ihren Garten, die Freunde die sie jung halten, die Schwiegereltern, die beide jünger sind als sie selbst, und ihren Ehemann, der für sie da ist. Nur die neue Frau mag sie nicht. Und diese versucht gerade, Barbara aus ihrem Leben und dem des Ehemanns zu schmeißen. Einen neuen Hund möchte sie sich auch wieder anschaffen, aber erst wenn sie einen neuen Mieter findet. Vielleicht in einem Jahr.
Reisen und Leben, doch ein großer Unterschied für mich.
Wenn man viel reist, dann trifft man inspirierende Menschen an allen Ecken. Man fängt an wieder an das Gute und vor allem an das Gute im Menschen zu glauben. Man kann viele Artikel über Menschen schreiben, die mit ihrem Rad die Welt umreisen, in einem Tuk Tuk von einem Ende der Welt ans andere fahren, tausende Kilometer zu Fuß überwinden, Jobs kündigen oder ein Hilfsprojekt in Südamerika hochziehen.
Wenn man anfängt an einem Platz fern von der Heimat zu leben, eintaucht in Kultur und die Lebensweise der Menschen und sich einlässt auf Neues, dann wird man geschockt. Jeden Tag aufs Neue. Und wachgerüttelt. Wie zwei Hände, die dich an deinen Schultern packen und dir ins Gesicht schreien “SEI DANKBAR”!
Ich möchte Barbara an den Schultern packen, sie rütteln, sie fragen, ob sie die Ungerechtigkeit nicht sieht, die ihr widerfährt. Ich möchte sie aufwecken, ermutigen von diesem Mann loszulassen, der sie hintergeht und ausnutzt. Ich möchte ihr von einer Welt erzählen, in der sie Gesetze auf ihrer Seite hätte, die sie vor ihrem Mieter schützen würde, die Vergewaltigungen bestraft und die sich in Krankenhäusern um kranke Säuglinge und verletzte Mütter kümmert. Aber warum sollte ich es ihr erzählen, wenn sie nie eine Chance hat, in dieser Welt zu leben; wenn es doch eh alles zu spät ist.
Was ich jetzt tun kann ist nicht viel mehr als ihr zuzuhören. Ihr meine Hilfe anzubieten, wenn sie in Zukunft Hilfe braucht. Es ist frustrierend. Aber nicht mehr so frustrierend wie noch vor einem Jahr. Ich habe schon lange aufgehört zu sagen “aber das würde in Deutschland so nicht gehen”. Man entwickelt Akzeptanz für etwas Inakzeptables in der eigenen und gewohnten Welt. Ein hartes Leben, eingepackt in Geschenkpapier.
Südafrika ist wunderschön. Wir haben Weite, Platz, eine Chance uns zu entwickeln zu etwas Großem. Wir haben Pinguine und Wale, wir haben Löwen und Giraffen, Nationalparks, Traumstrände, gutes Wetter.
Südafrika lehrt dich, auf dich aufzupassen, stark zu sein, Rückschläge einzustecken. Es macht dich sensibel für die Vorzüge einer Ersten Welt. Die Sicht auf Probleme verschiebt sich. Die Sicht auf die wahre Welt verschiebt sich. Du bewertest alles, dich selbst, dein altes und dein aktuelles Leben neu.
Ich merke, dass Barbara müde wird und biete ihr an sie nach Hause zu fahren. Sie nimmt dankbar an und setzt sich ins Auto. Nach nur 5 Minuten fahren wir in ihre Einfahrt. Ich sehe bunte Farbflecken an den Wänden. Sie erklärt, dass ihr Mieter es nicht mag, wenn Besuch in der Einfahrt parkt. Er hat sich also eine Paintball Pistole besorgt. Ich schüttle ungläubig den Kopf. Ich versuche nicht, ihr bewusst zu machen, wie schrecklich das doch ist. Sie wird damit weiterleben, so oder so.
Wir verabschieden uns, tauschen noch Handynummern aus und ich fahre wieder nach Hause. Etwas traurig darüber, dass ich nicht helfen kann, außer mit einem offenen Ohr. Traurig, da ich merke, dass dieses Land mich schon ein wenig verändert hat im Herzen. Es tut weh, aber nicht mehr so sehr wie noch bei den Geschichten vor über einem Jahr. Es ist taub, ein wenig hilfloser, vielleicht aber auch ein wenig stärker.
Später bekomme ich eine kurze SMS. “Es war ein wunderbarer Morgen. Vielen Dank, ich weiß das sehr zu schätzen!”
Vielleicht können wir von den Menschen, die das tägliche Leben stemmen, doch mehr lernen als von jedem Weltreisenden der seinen Job gekündigt hat, denke ich mir.
DIE GASTAUTORIN:
Ich bin Anke und komme eigentlich aus einem kleinen Dorf im Sauerland. Ich bin das Land- und Dorfleben also gewohnt. Nach meinem Abitur entfloh ich diesem und verlor mein Herz an Köln. Nach einem abgebrochenen Psychologiestudium (Gott sei Dank!) und einer abgeschlossenen Ausbildung wusste ich, dass noch etwas anderes kommen muss in meinem Leben. Da meine Fußspitzen nie aufhörten zu kribbeln und meine Nase immer schon im nächsten Reiseführer hing, entschloss ich mich der Wanderlust in meinem Herzen zu folgen und Köln den Rücken zu kehren. Ich ging auf Weltreise. Das letzte Land auf meiner Reise sollte Südafrika sein. Ich hatte mir das Video von Christine über Südafrika an die hundert Mal angeschaut und freute mich auf Landschaften und Safari. Südafrika wurde zur großen Überraschung für mich. Ich verliebte mich, nicht nur ins Land, und folgte meinem Herzen, nach einem kurzen Aufenthalt in Deutschland, zurück nach Kapstadt. Heute manage ich unser eigenes Gasthaus in Kapstadt und habe so die Möglichkeit Menschen aus aller Welt dieses wunderschöne Fleckchen Erde zu zeigen. Vom Reisenden zum Gastgeber!
2 comments
Ich habe gerade ein bisschen Pippi in den Augen, wegen dieser unheimlich starken Frau, der du ein Gesicht gibst, liebe Anke. Ich glaube auch viele Frauen in Deutschland im Alter von Barbara haben Leid erfahren und verstehen sie viel besser, als wir es jemals könnten.
Woher nimmt diese Frau die Kraft um weiterzuleben?
Dank dir Anke für diesen inspirierenden Beitrag. ?
LG
Anna