„Wenn man morgens aufsteht und nichts mehr spürt, keine Motivation, keine Freude, und das über mehrere Wochen, dann weiß man, es stimmt irgendwas nicht mehr.“
Ich frage mich oft, was man denkt und fühlt, wenn man an dem Punkt angekommen ist, an dem man weiß, dass man sein Leben ändern muss. Oder sein Ändern lebt. Seit ich den Artikel über Julia Engelmann geschrieben habe, denke ich sehr viel darüber nach. Was verändert uns, wann erkennt man den richtigen Weg und wie schafft man es, sich zu trauen. Ich sitze für meine wöchentliche Sprechstunde nicht in meinen Stammcafés, sondern bin nach Kreuzberg gefahren, um mich in der Mittagspause mit Bianca zu treffen.
1. Name, Alter, Beruf: Bianca, 24 Jahre alt, in der Schwebephase
2.Wie kam die Person zu mir: Über Twitter. Ich habe geschrieben, dass ich jemanden für meine Sprechstunde suche. Ich habe sie vorher einmal auf eine Party gesehen.
3.Was trinkt die Person: Minztee
„Die Zeit mit den Kindern war sehr schön, aber sie war viel zu kurz und die ganzen Rahmenbedingungen stimmten einfach nicht“, Bianca hält sich an ihrem Glas fest. Als ich ein Foto von ihren Händen mit ihrem Getränk machen wollte, hat sie scherzhaft bemängelt, dass sie sich die Nägel nicht gemacht hat, aber da schaut sowieso keiner hin. Ich bleib in ihren Augen hängen und an dem kleinen Tattoo an ihrem linken Handgelenk, ein Anker. Ich habe mir bis jetzt nie Gedanken darüber gemacht, wie das Leben einer Erzieherin aussieht. Weder kannte ich eine, noch habe ich Kinder. Aber es war immer einer dieser Berufe, die ich mir manchmal heimlich wünschte, weil sie mir so „leicht“ vorkamen. Ein bisschen vorlesen, Mittagessen zubereiten und abends nach Hause kommen und Feierabend haben. Außerdem den ganzen Tag etwas Gutes und Sinnvolles tun. Kein Facebook-Like-Gehetze, kein Textdruck, keine Bild-Abmahnungen…
Bianca ist 24 Jahre alt. In Augsburg hat sie fünf Jahre lang eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht. Warum? Weil sie eben etwas Gutes tun wollte, wie die meisten, die einen Beruf in diesem Bereich wählen. Nach fünf Jahren Ausbildung und zwei Jahren Kindergarten ist sie in die Behindertenhilfe gewechselt. Dort verbrachte sie den Tag oft alleine mit sieben behinderten und psychisch erkrankten Menschen, wenn ihre Kollegin mal wieder „krank“ war. Der eine hatte Demenz und 1000 Fragen, zwei waren Autisten, ein Anderer musste gewickelt werden. Am schlimmsten war ein Betreuter, der immer aggressiv wurde und sie öfters gepackt hat, so dass sie Narben und Quetschungen am Arm bekommen hat. Den Raum verlassen können, war nicht drin, aufs Klo gehen nur möglich, wenn ein andere Kollege vorbei gekommen ist. Alles in allem zu viel Verantwortung für eine 20-jährige, die gerade erst mit der Ausbildung fertig war.
Nach den zwei Jahren im in der Förderstätte für Menschen mit Behinderung zog sie nach Berlin und ging zurück in den Kindergarten. „Ich habe erst einmal eine Auszeit von dem heftigen Psychozeug gebraucht und musste wieder was mit kleinen, süßen Kindern machen.“, gibt sie mir als Begründung. Der normale Personalschlüssel in diesem Beruf – ein Erzieher für drei Kinder. In Berlin waren sie zu zweit für 18 Kinder im Alter von 1 bis 6 Jahren. Wenn die Kollegin krank war hatte Bianca 18 Kinder und man ist oft krank in diesem Beruf. Nicht nur wegen der Viren und Bakterien, die jedes einzelne Kind mitbringt, sondern auch wegen des Lärms, der einen zu schaffen macht.
„Im Durchschnitt ist man jeden Tag 100 Dezibel ausgesetzt“. Ich habe einmal mit der Dezibel-App gemessen, wie laut ich rülpsen kann. Es waren 80 Dezibel. Wenn ich mir vorstelle, dass es genauso laut ist, wie wenn ich den ganzen Tag rülpsen würde, wird mir schlecht.
Bianca möchte reden. Das gefällt mir. Sie möchte sich nicht beschweren oder jammern, sie möchte einfach Sachen einmal sagen, klarstellen, wie es ist und das als Erzieherin immer mehr von einem verlangt wird: Protokolle über die Entwicklung, Beobachtungen, Elterngespräche halten, mehr Anforderungen von den Eltern. Die Zeit am Kind wird zunehmend weniger, weil man schlichtweg keine Zeit hat, weil man keine Zeit hat, da die Erzieherin nur noch am planen und schreiben ist und wenn sie sich hinsetzt und etwas vorliest, dann beschweren sich die Eltern am Abend. „Wenn kein Bild am Ende des Tages an der Wand hängt, dann fragen sie mich, was wir denn den ganzen Tag gemacht haben.“, erzählt mir Bianca.
Fotoquelle: https://bit.ly/1dH3zhU
Sie wollte, aber sie konnte nicht mehr. Letztes Jahr im Mai hat sie festgestellt, dass das Gefühl der Demotivation nicht mehr weggeht. Die Freude war weg. Wir reden kurz über unsere Eltern, die Generation, die seit 30 Jahren in einer Firma arbeiten, jeden Tag schimpfen, aber es trotzdem weiter durchziehen. Die Generation die Arbeit und Spaß trennt. „Einerseits bewundere ich es“, sagt Bianca, “wie sie jeden morgen da hingehen und Schichtdienste machen können, andererseits tut es mir aber auch leid. Ich halte schon viel aus, aber irgendwo habe ich eine Grenze an der ich weiß, jetzt brauche ich was anderes sonst gehe ich kaputt.“
Sie hat ihren Sommerurlaub damit verbracht ein Praktikum in einer Werbeagentur zu machen. Nach dem Schnupperpraktikum hat die Agentur ihr eine weiteres sechsmonatiges Praktikum angeboten. Ich kenne eigentlich niemanden, der diesen Weg eingeschlagen hat, von der Erzieherin zur Medienfrau. Normalerweise ist er umgedreht. Die Menschen kehren der Medienwelt den Rücken zu und möchten etwas „Gutes tun“. Ich stelle die Frage dreimal in unserem Gespräch: Was fasziniert dich an dieser Onlinewelt? Eine richtig einleuchtende Antwort bekomme ich nicht. „Ich bin so eine Tippse. Das macht mir Spaß. Ich bekomme direktes Feedback, das ist auch schön“. Klar, sie bringt viele nützliche Eigenschaften mit, ist Teamfähig, einfühlsam, kommunikativ, aber was genau fasziniert sie? „Es ist was ganz anderes als die sozialen Berufe.“ Ja, ich würde es manchmal sogar asozial nennen, aber egal. Für manche Sachen braucht man keine Erklärung, ich muss mich mal davon verabschieden immer alles zu analysieren und ganz ehrlich, wenn man 15 Kinder bespaßen und gut mit Behinderten umgehen kann, dann hat man die besten Vorraussetzungen eine Online-Community zu betreuen.
Seit Kurzem weiß Bianca, dass sie von der Agentur übernommen wird. Die Bezahlung ist schlechter, als bei ihrem Beruf als Erzieherin, aber das ist ihr egal. Bianca war mutig. Das Arbeitsamt wollte sie nicht unterstützen. Erzieherinnen werde händeringend gesucht, die lässt man nicht aus dem Beruf gehen. Ob sie dabei noch Spaß haben, ist dem Amt egal. Bianca hat gezeigt, dass es einen Weg gibt, wenn der Wille da ist. Berlin hat immer den Ruf, dass man hier herkommt und versinkt. Völliger Schwachsinn. Berlin gibt einen alles, was man braucht. Man muss nur klug genug sein und zugreifen. Daran scheitert es eben bei den meisten.
Was mich besonders an unserem Gespräch interessiert und worüber ich lange danach noch nachdenke, wie Menschen unser Leben beeinflussen, vor allem die Partner. Ich kenne so ein paar männliche Individuen, auf die ich gut hätte verzichten können in meinem Leben, doch im Grunde muss ich dankbar sein, dass ich sie getroffen habe. Ich muss dankbar dafür sein, dass sie mich angelogen, enttäuscht und sich von mir getrennt haben, denn ohne sie würde ich nie so da sitzen, wo ich jetzt bin, im Café Görlitzer Bahnhof mit Bianca. Und ohne ihren Freund, von dem sich Bianca in Augsburg getrennt hat, wäre sie vielleicht nie nach Berlin gezogen und hätte sie hier nicht einen neuen Freund gefunden, der in der Medienbranche arbeitet, wäre ihr Leben auch ganz anders verlaufen und sie würde heute nicht hier sitzen, um mir das alles zu erzählen.
Auf unsere Generation wird oft viel geschimpft, die Orientierungslosen, die Faulen, die Angsthasen… Ich bin ziemlich stolz auf uns, denn wir haben eine Fähigkeit, die viel zu vielen Menschen fehlt. Wir können auf unser Herz hören.
Bianca trinkt einen Schluck von ihrem Tee. Ich schaue wieder auf den Anker. Wir haben nicht über die Bedeutung gesprochen, aber passender hätte das Symbol nicht sein können. Ein Anker, den man immer wieder einholen und neu auswerfen kann. Manchmal kostet es sehr viel Kraft, ihn vom Meeresboden hochzuholen, aber die Anstrengung wird mit der neuen Aussicht und einem anderen Standpunkt entlohnt. Ja, so ist das Leben.
12 Kommentare
Klasse Artikel :-)
Ich fühle mich angesprochen, als ehemaliger hauptberuflicher Rettungsassistent, der sich vor vierzehn Jahren als System- und Netzwerkadmin selbstständig gemacht hat, da waren meine Kinder sechs und sieben. Es war teilweise hart, aber es hat geklappt. In der Übergangszeit habe ich teilweise vier Dinge gleichzeitig gemacht. Schichtdienst im Rettungsdienst, zwei Nebenjobs, unter anderem als Paketzusteller und Fernstudium.
Kann man alles, wenn man will? Für mich ja.
LG
Andreas
Dies war seit langem mal wieder ein Artikel der mich wirklich zum Lesen angehalten hat. Denn er zeigt, dass in vielen Berufen mehr verlangt wird als man immer glaubt und das Menschen sich verändern. Neue Wege einschlagen möchten, sich oft aber nicht trauen. Man weiß einfach nicht wo man landen wird und das ist in der heutigen Zeit wahrscheinlich das größte Problem.
Man nimmt sich kaum noch Zeit für sich, seine Bedürfnisse und/oder Problemen – geschweige denn man hat überhaupt die Zeit dafür.
Sehr schöner Text und er regt tatsächlich zum Nachdenken an. Hätte mir die Arbeit als Erzieherin tatsächlich anders vorgestellt. Aber irgendwie hat doch jeder Beruf gute und schlechte Seiten. Grundsätzlich denke ich schon, dass man vieles erreichen kann, wenn man möchte. Ein bisschen Glück gehört natürlich auch immer noch dazu. Viele Grüsse aus Zürich.
Ein wundervoller Artikel, ich glaube man hätte es kaum besser sagen können. Ich sehe mich da selbst ein wenig, weil ich gerade in einer ähnlichen Schwebe bin.
Dann weißt du ja jetzt, was möglich ist ;)
ein schöner artikel! einzige anmerkung, die ich gerne machen würde: bitte schreib nicht “die behinderten”… vielleicht bin ich in diesem punkt pienzig, aber es heißt (oder sollte vielmehr heißen) menschen mit behinderung/beeinträchtigung. es sind doch auch menschen und ihre behinderung steht schon oft genug im fokus, da ist es schöner den begriff des menschen voranzustellen.
Wieder einmal ein sehr guter Artikel, den ich mit besonderem Interesse verfolgt habe, da ich mich ebenfalls in einer Phase der Um- bzw. Neuorientierung befinde. Im Gegensatz zu der Generation meiner Eltern, die fast von der Ausbildung bis zum Renteneintritt einer Firma treu geblieben sind, lege ich wert darauf, dass mir die Arbeit Spaß macht und ich das tun kann worin ich gut bin.
Ich zolle jedem Respekt, der mehrere Jobs parallel bewältigt oder sich selbstständig macht, um seinen persönlichen Traum zu verwirklichen. Genauso bewundere ich Menschen, die in körperlich und/oder psychisch anspruchsvollen Berufen ihre Berufung finden und die Belastung aushalten.
Wenn man selbst davon überzeugt ist, das Veränderung richtig ist und vielleicht noch das Umfeld einen unterstützt, kann man alles erreichen. Dafür braucht man u.a. einen starken Willen und Durchhaltevermögen, das kommt alles aus einem selbst, das kann einem kein Video der Welt abnehmen.
Hey Christine,
woaw! Bin etwas sprachlos. Aber im positiven Sinne.
Deine Sprechstunde finde ich toll.
Liebe Grüße
Steffi
Vielen, vielen, lieben Dank! Macht sehr viel Arbeit aber ich glaube, es lohnt sich ;)
Man kann alles wenn man es will. Ich bin das beste Beispiel. Vielleicht würdest du ja mal über mich berichten. Bin gerade mal 29 Jahre alt und habe schon ziemlich viel geschafft. Da würden die Quatscher über unserer heutige Geberation aber gucken;-) Sehr schöner Bericht, hat super viel Spaß gemacht ihn zu lesen und regt den Kopf an mal über alles genau zu denken. Danke
Liebe Christine,
Danke, für diesen so schön geschriebenen Artikel und dein neues Projekt!
Die Anforderungen und die Belastung in den meisten sozialen Berufen steigt und steigt, die Rahmenbedingungen werden schlechter und ich frage mich oft, wo das wohl hinführen / wie lange das noch so gut gehen wird…
Ich würde mich freuen, von dir noch mehr über deine Gedanken zu den Themen “was verändert uns” und “wie andere Menschen unser Leben beeinflussen” zu lesen.
Dein neues Projekt “Sprechstunde” ist suuuper! Begegnungen mit Menschen, Gespräche aus dem Leben, mit deinen Worten verpackt – inspirierend, berührend, authentisch.
Liebe Teresa, vielen, lieben Dank! Es werden noch ein paar ganz schöne Sachen kommen :)