Ich starte heute nicht allein in mein Vorhaben. Es ist sozusagen ein Gemeinschaftsprojekt. Benny ist dabei. Ein reinrassiger Lasha Apso, angeblich ein tibetischer Hirtenhund, obwohl er nur halb so groß ist wie ein Schaf. Aber vielleicht hält er die Herde nicht mit Geschicklichkeit, Schnelligkeit und Ehrfurcht unter Kontrolle, sondern mit seinen wuscheligen Haaren und den großen, braunen Teddybär-Knopfaugen, die nicht nur Schafe dahin schmelzen lassen, sondern auch Menschen.
Ich freue mich, dass er dabei ist, aber er beeinträchtigt meine Konzentration auch stark, da ich zu 40 Prozent damit beschäftigt bin ihm Befehle zu geben und aufpassen muss, dass er keinen Passanten in die Wade beißt.
Die einzige Entschuldigung, die man seinem Verhalten entgegen bringen kann, ist seine schwere Kindheit.
Wir haben ihn aus dem Osten geholt, von einem Züchter, bei dem er bis zu seinem 4. Lebensmonat nur ein Wohnzimmer kannte und somit vor allem Angst hat, was da draußen passiert, laut ist und sich schnell bewegt.
Auch gesundheitlich hat er es nicht einfach. Völlig überzüchtet leidet er an chronischer Ohrenentzündung (vielleicht hört er deswegen so schlecht) und an eiternden Augen. Meine Mutter behauptet, dass die Tierärztin sogar gesagt hat, sie könnten ihm irgendwann raus fallen.
„Ich würde sie dann einfach wieder reinstecken und sie zukleben, bis ich beim Tierarzt bin“, hat meine Mutter schon geplant. Ich bezweifle, dass sie das alles richtige gehört und verstanden hat. Oder können einem wirklich einfach irgendwann plötzlich die Augen raus fallen? Ich hoffe es passiert nicht heute, wo ich Ringbahn mit ihm fahren will.
Mit diesem kleinen, süßen Ding als Begleitung, ist man ein absoluter Aufmerksamkeitsherd. Im Durchschnitt bekommt man mit ihm bei einem 40 -minütigen Spaziergang drei Mal gesagt:
„Oh ist der süüüüüüüüüüüßßßßßßßß!“
Ja, manchmal bin ich etwas eifersüchtig und neidisch. Zu mir sagt keiner bei einem Rundgang von 40 Minuten dreimal: „Oh ist die süß.“ Vielleicht drei Mal in vier Jahren.
Aber ich nehme es mit Fassung. Sie finden ihn auch nur so lange süß, bis sie versuchen ihn zu streicheln, er wieder eine Zwangsneurose bekommt und seine kleinen süßen, fleischfressenden Zähnchen zeigt.
Zur Frankfurter Alle hätte ich in 10 Minuten hinlaufen können. Mit dem Hund würde ich aber die dreifache Zeit brauchen. Er muss ständig stehen bleiben, schnuppern, schauen, schnuppern, Bein heben, Passanten hinterher schauen bis sie um die Ecke sind und wieder schnuppern, schauen und pinkeln. Manchmal auch kacken. Bevorzugt mitten auf den Gehweg, so dass ich mein schwarzes Kackbeutelchen aus der Manteltasche ziehe, es über meine Hand stülpe und schon darauf warte, dass der Hund sich von seiner zusammen gekrümmten Kackposition erhebt und ich die Kothaufen hinter ihm wegmachen kann. Während ich damit beschäftigt bin steht er da, guckt, schaut und pinkelt erneut. Er ist ein richtiger Kleinstadtmensch – völlig überfordert mit der Großstadt, dem Trubel und den Menschen.
Ich nehme also aus Zeitgründen die U-Bahn, Haltestelle Samariterstraße, um zur S-Bahnstation Frankfurter Allee zu kommen.
Eine korpulente Frau, um die 60, hat den Platz gegenüber von mir eingenommen. Ihr Styling ist gewagt: rote Krokoschuhe von einer orthopädischen Schuhmarke, dazu ein Paar grasgrüne Hosen, ein schwarzes Jäckchen mit Pelzkragen und eine Seemanns Wollmütze. Sie versucht Kontakt mit Benny aufzunehmen indem sie in Babysprache verfällt:
“Gutschi, gutschi.”
Das ist ein Hund! Ich bin fassungslos.
Der Hund springt auch noch voll drauf an und schnuppert mit erhobener Schnauze und halb geschlossenen Augen in ihre Richtung. Schleimer.
Auf so ein bisschen Gutschigutschi steht er voll aber wehe es versucht ihn einer anzufassen und über den Kopf zu streicheln. Dann brennen seine Sicherungen durch und er zeigt die Zähnchen.
Ich habe gleich bei der ersten Fahrt einen aufmerksamen Beobachter gegenüber von mir, dessen Interesse oder Desinteresse auf seinen Mundwinkel abzulesen ist. Das erste Mal sah ich ein Lächeln auf seinem Gesicht, als ich versuchte Benny gekonnt zwischen meine Beine zu platzieren, was natürlich bei einem erziehungsfreien, halbtauben Hund gar nicht so einfach ist. Ich zog ihn quer unter dem Sitz hin und her, bis er endlich meine gewünschte Position einnahm. Als ich Aufblicke, sah ich die heitere Visage des Beobachters. Ich bin irritiert. Das ist eigentlich meine Rolle.
Das war die einzige und letzte Runde mit Benny. Er lenkt mich zu sehr ab und plötzlich werde ich zum Beobachtungsobjekt…
6 comments
Damit Du's heute mal hörst:
Ich find Dich süß!
This just made my day :)
Habe so herzlich gelacht bis mir die Tränen gekommen sind, großartig!!
loved it – shared it: https://www.facebook.com/Youdress
ich verfolge deine seite schon länger – aber "youdress" auf facebook hat diesen beitrag hier vorher gerade gepostet :)
falls du das noch nicht wusstest..